Menschen mit erhobener Faust vor der EU-Flagge in Kiew (Archivbild aus dem Jahr 2013)
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Durchmischte Aussichten

Ukraine fünf Jahre nach Maidan am Scheideweg

Die Aussichten der Ukraine sind fünf Jahre nach den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan bescheiden. Eine Rückholung der Krim ist unrealistisch, die Korruption grassiert. Die wirtschaftliche Perspektive gibt allerdings Grund zur Hoffnung. Nun steht ein turbulentes und für die Zukunft der Ukraine entscheidendes Wahljahr ins Haus.

Noch heute werden im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland beinahe täglich Menschen verletzt oder getötet. Mit den Massenprotesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan hat für das Land eine Abwärtsspirale begonnen. Auslöser war im November 2013 die Abwendung der ukrainischen Regierung von der EU: Sie kippte die geplante Unterzeichnung eines Partnerschaftsabkommens. Hunderttausende protestierten in der Folge Tag und Nacht auf dem Maidan. Im Februar kam es zur Eskalation: Bei Straßenkämpfen mit Schusswaffeneinsatz starben mehr als 100 Menschen auf beiden Seiten.

Präsident Viktor Janukowitsch floh nach Russland. Moskau griff militärisch auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim ein und besetzte auch das Parlament. Ein international nicht anerkanntes Referendum auf der Krim führte zur Annektion der Halbinsel. Die Ukraine verlor mit einem Schlag sieben Prozent seines Territoriums. Im mehrheitlich russischsprachigen Donbass wurde zudem die „Volksrepublik Donezk“ ausgerufen, Lugansk folgte dem Beispiel. Mehr als zwei Millionen Ukrainer, die auf der Krim bleiben, erhielten einen russischen Pass. Hunderttausende machten sich auf die Flucht. Ein Friedensplan, der 2015 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk zustande kam, hat heute kaum noch eine Bedeutung.

Proteste in Kiew, 2014
APA/AFP/Piero Quaranta
Der Maidan im Februar 2014: Aus den Hoffnungen über Europa wurde eine gewaltsame Eskalation

Das Erbe der Maidan-Bewegung ist zwiespältig, so die Ukraine-Expertin Tatiana Zhurzhenko von der Universität Wien gegenüber ORF.at. Die Bewegung habe sich politisch nicht institutionalisiert, etwa als Partei. Doch ihre ehemaligen Aktivistinnen und Aktivisten seien nun im Parlament und anderen Institutionen. Andere engagieren sich in der Zivilgesellschaft. „Der Maidan hat zu einer Explosion der ukrainischen Kultur geführt, außer- und innerhalb der staatlichen Institutionen“, so Zhurzhenko. Doch gebe es auch negative Folgen: radikaler Nationalismus und Rechtsextremismus, der wiederholt in Gewaltexzesse münde. „Der Staat reagiert hier nicht immer mit der gebotenen Härte.“

Ukraine im Stellvertreterkonflikt

Die Entwicklungen seither, die Ereignisse rund um Ostukraine und Krim, haben sich inzwischen längst zu einem Stellvertreterkonflikt zwischen Westen und Russland entwickelt und treffen die Ukraine dort, wo es schmerzt: Während die Sanktionsspirale Russlands Wirtschaft schwächte, traf die Dauerkrise die Ukraine mit voller Wucht. Zwischen 2010 und 2015 stürzte die Wirtschaftsleistung um rund zehn Prozent ab.

Karte zeigt die Ukraine und die Krim
Grafik: APA/ORF.at

Heute ist die Ukraine stark vom westlichen Geld abhängig. Allein aus EU-Töpfen flossen rund 13 Milliarden Euro an Hilfen nach Kiew. Erst im Oktober einigte sich der Internationale Währungsfonds (IWF) mit der Ukraine auf eine neue Kreditlinie. Hier ging es nochmal um 2,4 Milliarden Euro, und die Einigung ersetze nur ein Abkommen von 2015, das nächstes Jahres auslaufen soll.

„Auf gutem Wege“

Mühsam stabilisiert sich die Wirtschaft nach der Abwärtsspirale. Mit Ausnahme der Inflation (2017 bei 14,5 Prozent) zeigen die wichtigsten Indikatoren wieder nach oben. Für heuer wird ein Wachstum von bis zu 3,5 Prozent erwartet. Zudem wurden wichtige Reformen im „notorisch korrupten Energiesektor“ durchgesetzt, sagt Zhurzhenko. Die Ukraine sei nahe dran gewesen, „ein ‚failed state‘ zu werden. Doch trotz der bis heute andauernden Belastungen durch den Krieg und den Verlust von ertragreichen Regionen stabilisiert sich die wirtschaftliche Situation langsam.“ Für Zhurzhenko scheint das Land „trotz aller Widrigkeiten auf einem guten Wege“ zu sein.

Grafik zeigt die Veränderung des realen BIP in der Ukraine
Grafik: ORF.at; Quelle: WKO/Weltbank/IWF

Noch ist die Ukraine aber mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von rund 2.350 Euro eines der ärmsten Länder Europas. Und die internationalen Geldgeber fordern Maßnahmen, die auch die Bevölkerung treffen. Als Gegenleistung für die Kredite hatte der IWF die Ukraine etwa aufgefordert, die Gaspreise anzupassen. Kiew erhöhte kürzlich die Gaspreise für die Bevölkerung um 23,5 Prozent.

Wenig Besserung bei Korruption

Hinzu kommt die epidemische Korruption. Recherchen der „Süddeutschen Zeitung“ in Kiew und Odessa zufolge gehen der Staatskasse allein beim Zoll jährlich bis zu 4,2 Milliarden Euro verloren. Das entspreche weit mehr als einem Zehntel der Staatseinnahmen. Auf Druck der internationalen Geldgeber beschloss die Regierung inzwischen die Schaffung diverser Behörden gegen die Korruption, etwa ein Sondergericht für Korruptionsverfahren. Doch verbessert haben sie die Situation bisher kaum.

2014 war die Ukraine im Index der Korruptionswahrnehmung von Transparency International mit Platz 142 von 174 Ländern das korrupteste Land Europas. Inzwischen liegt die Ukraine auf Platz 130 und hat sich damit nur geringfügig verbessert.

Entscheidendes Wahljahr steht bevor

Das kommende Wahljahr dürfte mit diesen Faktoren turbulent werden. Im März 2019 ist die Präsidentenwahl angesetzt, im Oktober soll dann die Wahl des Parlaments folgen. Der Schokolade-Oligarch Petro Poroschenko will Präsident bleiben. Als er sein Amt 2014 nach dem geflohenen Janukowitsch antrat, galt er noch als Hoffnungsträger. Nun könnte seine Unbeliebtheit ausgerechnet einer alten Konkurrentin ein Comeback ermöglichen: In etlichen Umfragen liegt Poroschenko weit abgeschlagen hinter Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Poroschenkos große Wahlversprechen, darunter die Beendigung des Kriegs im Osten des Landes und eine ernsthafte Bekämpfung von Korruption, blieben unerfüllt. Poroschenko hat aber auch Befürworter: „In dreieinhalb Jahren wurde mehr gemacht als in all den Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion“, so der ukrainische Wirtschaftswissenschaftler Aleksandr Paschawer zur APA.

Für Politologin Zhurzhenko sind die Wahlen völlig offen. Doch deren Bedeutung ist unumstritten: „Diese Wahlen sind sehr wichtig, denn ob die Ukraine auf ihrem prowestlichen Reformkurs bleibt, hängt von deren Ergebnis ab“, so Zhurzhenko. Die Bevölkerung ist auch fünf Jahre nach den Maidan-Protesten mehrheitlich proeuropäisch eingestellt, auch wenn der Weg seither ihre Erwartungen kaum erfüllt hat. Laut einer Umfrage vom August sind 52 Prozent für einen EU-Beitritt, erläutert Zhurzhenko. Rund ein Drittel der Menschen ist zudem der Ansicht, die EU solle mehr Druck auf die ukrainische Regierung machen, um Reformen zu beschleunigen.