Gerichtsunterlagen im Gericht Lueneburg
APA/AFP/Philipp Schulze
NS-Verbrechen

Ex-KZ-Aufseher und die späte Anklage

Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs muss sich ein mutmaßlicher Ex-Wachmann des NS-Konzentrationslagers Mauthausen wegen Beihilfe zum Mord in 36.000 Fällen vor Gericht verantworten. Dass der 95-jährige Hans H. erst jetzt angeklagt wird, geht auf eine geänderte Rechtsprechung zurück.

Laut Staatsanwaltschaft Berlin soll H. zwischen Sommer 1944 und Frühjahr 1945 „Angehöriger der des SS-Totenkopfsturmbannes“ im KZ Mauthausen gewesen sein. Während dieser Zeit starben im KZ mindestens 36.223 Menschen – größtenteils durch Vergasung, „Totbadeaktionen“, Injektionen und Erschießungen wie auch durch Verhungern und Erfrierungen. H.s Tätigkeit soll sich auf die Bewachung von Häftlingen bezogen haben. Dem Beschuldigten sollen alle Tötungsarten und -methoden sowie die „desaströsen Lebensumstände der inhaftierten Menschen“ bewusst gewesen sein.

Dass der 95-Jährige angeklagt wird, wirft für viele auch die Frage auf: Warum erst jetzt? Die Antworten sind mannigfaltig. Die einfachste lautet: Manch ein Name konnte erst in den letzten Jahren recherchiert werden, nachdem Archive für Juristen und Juristinnen erst zugänglich wurden. Eine andere Begründung ist das Gesetz. In den 60er Jahren hatte der deutsche Bundesgerichtshof entschieden, dass die bloße Anwesenheit als Aufseher in einem KZ für eine Verurteilung nicht ausreicht. Eine konkrete Tatbeteiligung müsse nachgewiesen werden. Sehr lange hielt sich die deutsche Justiz daran und ermittelte nicht weiter.

Warum KZ-Aufseher vor Gericht stehen

Die Wende kam am 12. Mai 2011. Damals wurde der Ukrainer John Demjanjuk in Deutschland wegen Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Demjanjuk war als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor im südöstlichen Polen tätig. Auch wenn ihm keine individuelle Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte: „Der Angeklagte war Teil der Vernichtungsmaschinerie“, sagte der damalige Richter Ralph Alt. Die bloße Anwesenheit in Sobibor reichte dem Vorsitzenden für das Urteil bereits aus. Allerdings wurde dieses nie rechtskräftig, weil Demjanjuk vor dem Revisionsverfahren starb. Im Rechtssinne gilt er als unschuldig. Der deutsche Jurist Martin Heger schrieb daraufhin: „Wer früher stirbt, ist länger unschuldig.“

Der ehemalige KZ-Aufseher John Demjanjuk
Reuters/Michaela Rehle
Der ehemalige KZ-Aufseher John Demjanjuk starb, bevor das Urteil gegen ihn rechtskräftig wurde

Man musste nun wieder auf ein Urteil gegen einen mutmaßlichen NS-Schergen warten, der nicht direkt am Massenmord beteiligt war. 2015 war es dann so weit. Der frühere SS-Mann Oskar Gröning (94) wurde am Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen im KZ Auschwitz zu vier Jahren Haft verurteilt. Gröning hatte Geld von Verschleppten gezählt und zur SS nach Berlin weitergeleitet. Er sagte auch aus, zwei- bis dreimal Dienst an der sogenannten Rampe getan zu haben, um dort Gepäck zu bewachen. Dort wurden deportierte Juden und Jüdinnen zur Ermordung selektiert.

Anwälte von Nebenklägern legten beim Bundesgerichtshof allerdings Revision gegen das Urteil ein. Auch von den Verteidigern Grönings wurde Revision eingelegt. Weder durch seine Anwesenheit an der Rampe noch durch die Weiterleitung der Devisen habe Gröning eine Beihilfe geleistet, die den Holocaust befördert hat, jedenfalls nicht im strafrechtlichen Sinn, argumentierte die Verteidigung. Doch am 20. September 2016 wurde das Urteil bestätigt, das rechtskräftig wurde und die frühere Rechtsauslegung änderte. Auch NS-Aufseher beteiligten sich an den unzähligen Morden unter dem NS-Regime.

Kritik an späten Anklagen

Freilich gibt es auch Kritik daran, dass heute noch mutmaßliche NS-Verbrecher und NS-Verbrecherinnen vor Gericht gebracht werden. Einige sprechen von einer „Alibiveranstaltung“, um „gute Gesinnung“ zu zeigen. Der deutsche Historiker Michael Wolffsohn bezeichnete in einem Interview 2013 die Prozesse als „reinen Aktionismus“ und befürchtete einen „Märtyrer-Effekt“, da die greisen Männer und Frauen, die angeklagt werden sollen, in der Öffentlichkeit Mitleid erregen würden. So sei es auch bei John Demjanjuk gewesen, der die meiste Zeit im Gerichtssaal vor sich hin dämmernd auf einem Krankenbett verbrachte, sagte er im Deutschlandfunk-Gespräch.

Kritik übte Wolffsohn auch an den späten Prozessen. Sie hätten früher gemacht werden sollen, nicht mehr heute. Es gibt viele Stimmen, die sich äußerst kritisch gegen Anklagen äußern, die mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust eingebracht werden. Allerdings, so hieß es in einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ nach dem Urteil gegen Gröning, wäre es noch „furchtbarer, wenn der Prozess gar nicht gekommen wäre“. Auch der zuständige Richter argumentierte ähnlich: „Man kann auch nach 70 Jahren hier Gerechtigkeit schaffen. Man kann hier ein Urteil finden. Man muss es auch“, sagte er 2015. Gröning starb am 9. März 2018, bevor er seine Haftstrafe antrat.

Wettlauf gegen die Zeit

Allerdings ist die strafrechtliche Verfolgung gegen mutmaßliche NS-Verbrecher und -Verbrecherinnen auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Selbst wenn diese noch am Leben sind, müssen sie auch vernehmungs- oder verhandlungsfähig sein. So musste sich etwa der mutmaßliche frühere SS-Wachmann Hans Lipschis nicht wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht verantworten. Ein Landgericht in Baden-Württemberg lehnte ein Verfahren gegen den damals 94-Jährigen 2014 wegen Verhandlungsunfähigkeit ab. Die Staatsanwaltschaft hatte dem gebürtigen Litauer vorgeworfen, zwischen 1941 und 1943 Beihilfe zum Mord an mehr als 10.500 Menschen geleistet zu haben.

KZ Mauthausen
ORF.at/Roland Winkler
Im KZ Mauthausen soll Hans H. Wache gewesen sein und vom Massenmord gewusst haben

Der jüngste Prozess gegen einen KZ-Wachmann wird derzeit vor dem Landgericht im nordrhein-westfälischen Münster geführt. Ein 94-Jähriger soll von der systematischen Massentötung im KZ Stutthof (Polen) gewusst haben. Der Angeklagte betreitet das. Er sei zwar als SS-Wache in dem Lager gewesen und habe den schlechten Zustand der Insassen bemerkt, so der 94-jährige Johann R. Von Gaskammern und systematischen Massenmorden habe er aber „nichts gewusst“. Er selbst sei „unter Zwang“ und aus Furcht vor Repressalien in die SS eingetreten und habe den Dienst in Stutthof nur angenommen, um den gefährlichen Fronteinsatz zu entgehen.

Dass es früher oder später keine Prozesse mehr geben wird, ist klar. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum, das sich mit der weltweiten Suche nach untergetauchten NS-Verbrechern und Kollaborateuren beschäftigt, gab mit Stand 2017 an, dass weltweit mehr als 1.500 Ermittlungen geführt würden. Alleine in Deutschland sind es 1.538 Fälle, in Österreich zwei – darunter auch der ehemalige SS-Haupsturmführer Alois Brunner, der 2014 in Syrien gestorben sein soll. Im akutellen Fall gegen den mittlerweile 95 Jahre alten Hans H. will die Staatsanwaltschaft in Berlin deshalb so schnell wie möglich das Hauptverfahren starten. Wann der Prozess stattfinden wird, ist aber noch unklar.