Die Staats- und Regierungschefs der in der EU verbleibenden 27 Länder besiegelten auf einem Sondergipfel am Sonntag das mühsam ausgehandelte Vertragswerk. Damit ist das EU-Goodbye der Briten im März 2019 aber noch lange nicht in trockenen Tüchern, denn es fehlt noch die Zustimmung des britischen Parlaments. Dort zeichnet sich starker Widerstand ab.
„Niemand gewinnt etwas, wir verlieren alle“, betonte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zeigte sich erleichtert und traurig. Der Austritt sei „tragisch“. Es sei aber gut, dass man nun den Ausstiegsvertrag habe. „Wir haben aus Sicht der EU-27 jetzt eine Grundlage für eine geordnete Trennung und den Aufbau künftiger Beziehungen.“
„Take it or leave it“
Zugleich betonten mehrere der EU-27 sowie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dass an diesem Entwurf nicht mehr zu rütteln sei. Nachbesserungen, wie von „Brexit“-Befürwortern gefordert, oder gar ein neues Abkommen werde es nicht geben. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) formulierte es als aktueller Ratsvorsitzender mit „take it or leave it“.
Rutte legte nach und sagte, „es gibt keinen Plan B. Wenn irgendwer im Vereinigten Königreich glaubt, dass durch eine Ablehnung des Abkommens etwas Besseres herauskommen könnte, der irrt sich“. Ganz ähnlich auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Es werde keine Alternative zum „Brexit“-Vertrag und auch keinen besseren Deal geben, sollte das jetzige Abkommen im Parlament nicht angenommen werden. Wer etwas anderes erwarte, werde enttäuscht.
Der „Brexit“-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, forderte das Königreich auf, das ausgehandelte Abkommen zu ratifizieren. Es sei eine faire und ausgewogene Einigung. Es sei der bestmögliche Deal. Ein hochrangiger EU-Beamter betonte, die einzige Alternative, auf die sich die EU vorbereite, sei ein „No Deal“-Szenario, also ein harter „Brexit“ ohne rechtliche Klarheit.
Tim Cupal über den „Brexit“-Deal
Die Entscheidung über den „Brexit“-Deal liegt mit dem EU-Votum nun in London. ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet aus Brüssel über den unklaren weiteren Fahrplan des Ausstiegs der Briten aus der EU.
Schwerer Schlag
Für die EU ist der Abschied ein schwerer Schlag. Wegen des schlagkräftigsten Militärs und der globalen Aufstellung durch die imperiale Vergangenheit war London immer ein wichtiger Partner. Und die wirtschaftsfreundliche Regierung bildete in der EU ein Gegengewicht zu den in solchen Fragen mehr zu Staatseingriffen neigenden Franzosen. Das Königreich ist die zweitgrößte Wirtschaft in der Union nach Deutschland.
Abstimmung in London noch heuer
Die Einigung vom Sonntag ist der erste große von mehreren Schritten bis zum endgültigen Vollzug der Scheidung. EU-Ratspräsident Donald Tusk betonte nach der Einigung vor allem die Einigkeit der EU-27. Großbritanniens Premierministerin Theresa May warb unterdessen bei der britischen Bevölkerung um Unterstützung für den „Brexit“-Deal. Konkret billigten die Staaten den Austrittsvertrag und eine politische Erklärung über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien. May muss nun die Zustimmung des britischen Parlaments für den Deal gewinnen. Sie kündigte die Abstimmung noch im Dezember an.
Die Vereinbarung soll am 30. März 2019 in Kraft treten. Der Gipfel rief die EU-Kommission, das EU-Parlament und den EU-Ministerrat auf, „die nötigen Schritte zu setzen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarung am 30. März 2019 in Kraft treten kann, um so für einen geordneten Austritt zu sorgen“.
May sieht „rosige Zukunft“ für Großbritannien
In einer Pressekonferenz zeigte sich Großbritanniens Premierministerin May zufrieden mit dem ausgehandelten Abkommen. Der Deal ermögliche eine „rosige Zukunft“ („bright future“) für Großbritannien.
In ihrem Statement wandte sie sich direkt an die Bevölkerung. Das Abkommen würde bei „Grenzen, Gesetzen und Geld“ der britischen Bevölkerung nützen. Trotz eines Ausscheidens aus Binnenmarkt und Zollunion werde es künftig eine enge Zusammenarbeit Großbritanniens mit der EU geben. Das sei ebenfalls gut für das nationale Interesse und die Wirtschaft.
Macron ortet Reformbedarf der EU
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte, dass der „Brexit“ zeige, dass die Europäische Union fragil sei und eine grundlegende Reform brauche. EU-Parlamentschef Antonio Tajani versicherte unterdessen, dass es vonseiten der EU eine parlamentarische Mehrheit für den „Brexit“-Deal gibt. „Es wird eine Mehrheit geben.“ Das Parlament werde im Jänner oder „spätestens im Februar“ über den Deal abstimmen.
Kritik aus London und Nordirland
In der britischen Politik sorgte das Vertragspaket für scharfe Kritik. Nach Ansicht des früheren Parteichefs der Konservativen Partei, Iain Duncan Smith, wird es „sehr, sehr schwer“ werden, den Deal zu unterstützen. Die nordirische DUP, auf deren Stimmen May angewiesen ist, drohte sogar, die Unterstützung für May einzustellen. Sollte das britische Parlament das Abkommen verabschieden, müsse die DUP ihre Unterstützung für May nochmals „überdenken“, sagte DUP-Chefin Arlene Foster der BBC.
May verfasste Brief an britische Bevölkerung
In einem Brief versuchte die britische Premierministerin, für die Einigkeit der britischen Bevölkerung zu werben. „Ein neues Kapitel in unserem nationalen Leben beginnt“, schrieb die Regierungschefin. Nach dem EU-Austritt Ende März 2019 werde es zunächst einen Moment der „Erneuerung und Versöhnung“ für das ganze Land geben. Die Befürworter und Gegner der Loslösung von der EU müssten wieder ein Volk werden.
Tory-Abgeordneter: Neues Referendum möglich
Nach Ansicht des britischen Tory-Abgeordneten Dominic Grieve verbessern sich indes mit dem Austrittsvertrag die Chancen für eine neue Volksabstimmung in Großbritannien über den „Brexit“. Auch die Tory-Abgeordnete Sarah Wollaston rief zu einem zweiten Referendum auf. Das von May ausverhandelte Abkommen mit der EU bedeute „keine hellere Zukunft, sondern Düsternis und Schrumpfung“, warnte sie. May schloss allerdings am Sonntag erneut ein neuerliches Referendum kategorisch ab.