Deutsche Kanzlerin Merkel
Reuters/Ian Langsdon
Konflikt Moskau – Kiew

Merkel sprach mit Putin

Russlands Staatschef Wladimir Putin hat sich in einem Telefongespräch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über den wieder aufgeflammten Konflikt mit der Ukraine besorgt über die Verhängung des Kriegsrechts in der Ukraine geäußert. Er forderte Merkel auf, mäßigend auf die Regierung in Kiew einzuwirken, „keine weiteren unüberlegten Schritte“ zu ergreifen, wie der Kreml am Dienstagmorgen erklärte.

Putin habe in dem Gespräch vom Montagabend gegenüber Merkel seine „ernste Sorge“ angesichts der Entscheidung Kiews ausgedrückt. Er hoffe, dass Berlin die ukrainische Regierung „beeinflussen“ könne, um diese von „künftigen unüberlegten Handlungen“ abzuhalten.

Merkel betonte ihrerseits „die Notwendigkeit von Deeskalation und Dialog“, wie der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert mitteilte. Merkel und Putin hätten zudem „die Option einer Analyse des Vorfalls unter Beteiligung russischer und ukrainischer Grenzschutzexperten“ erörtert. Sie hätten vereinbart, „hierzu in engem Kontakt zu bleiben“. Merkel hatte am Montag auch mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko telefoniert.

Russland will über Seeleute entscheiden

Die Ukraine wirft Russland vor, am Sonntag vor der Schwarzmeer-Halbinsel Krim drei ihrer Marineschiffe beschossen und aufgebracht zu haben. Mehrere ukrainische Marinesoldaten wurden dabei verletzt. Am Montagabend verhängte das ukrainische Parlament ein 30-tägiges Kriegsrecht in Teilen des Landes. Die russischen Behörden wollen am Dienstag über das weitere Schicksal von mehr als 20 festgehaltenen ukrainischen Marineangehörigen entscheiden. EU und NATO verlangen die sofortige Freilassung der Seeleute und ihrer drei Boote.

Vor dem UNO-Sicherheitsrat am Montag gab Moskau Kiew die Schuld am Zwischenfall im Asowschen Meer – doch Moskau steht weitgehend isoliert da. Das Vorgehen Russlands gegen ukrainische Schiffe vor der Krim löste scharfe Reaktionen der UNO und der NATO aus. Der Vorfall sei eine „skandalöse Verletzung“ der ukrainischen Souveränität gewesen, sagte US-Botschafterin Nikki Haley am Montag in New York bei einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats.

Die wiederholten „gesetzlosen Handlungen“ Russlands machten es unmöglich für US-Präsident Donald Trump, eine normale Beziehung zu Moskau aufzubauen. Trump selbst ist nach eigenen Worten „nicht glücklich“ über die neuen Spannungen. Die Situation sei „nicht gut“, sagte Trump, „es gefällt uns nicht, was gerade passiert“.

NATO: Lage „sehr ernst“

Die Gruppe der derzeitigen und künftigen europäischen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats – Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Polen, die Niederlande, Schweden, Belgien und Italien – stellten sich nach der Sitzung demonstrativ hinter die Ukraine. In einer Mitteilung riefen die Länder zur Zurückhaltung und Deeskalation auf und betonten ihre Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte Russland auf, umgehend die beschlagnahmten ukrainischen Schiffe freizugeben und deren Besatzungen freizulassen. Nach einer Krisensitzung der NATO betonte Stoltenberg, alle Mitglieder des Militärbündnisses hätten sich hinter die Ukraine und ihre territoriale Integrität gestellt. Die Ukraine ist nicht in der NATO, strebt aber eine Mitgliedschaft an. „Was wir gestern gesehen haben, war sehr ernst“, resümierte Stoltenberg.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) rief am Dienstag Russland und die Ukraine zum Dialog auf. „Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen im Asowschen Meer und der Meerenge von Kertsch“, teilte der OSZE-Vorsitzende und italienische Außenminister Enzo Moavero Milanesi am Dienstag mit.

Eskalation in der Meerenge

Der ukrainische Präsident erließ als Reaktion auf die Beschlagnahmung der Schiffe ein Dekret zur Verhängung des Kriegsrechts ab Mittwoch, um das Land für die Abwehr einer möglichen russischen „Invasion“ zu rüsten. Das Parlament stimmte am Abend zu, das Militär ist bereits in voller Alarmbereitschaft.

Ukrainischer Präsident Petro Poroschenko im Parlament
Reuters/Valentyn Ogirenko
Nach turbulenter Debatte billigte das Parlament in Kiew Poroschenkos Kriegsrechtserlass mit großer Mehrheit

Die Regierung in Moskau wiederum warf der Ukraine vor, die Aktionen in der Straße von Kertsch sollten als Vorwand dienen, um den Westen zu weiteren Sanktionen gegen Russland zu bringen. Das eigene Vorgehen sei dagegen gerechtfertigt, weil die ukrainischen Marineboote illegal in russische Gewässer eingedrungen seien. Der auch für den Grenzschutz zuständige russische Inlandsgeheimdienst FSB erklärte, die beschlagnahmten ukrainischen Kriegsschiffe hätten zuerst ihre Kanonen auf die russischen Schiffe gerichtet. Die folgenden Warnschüsse als Aufforderung zum Stoppen hätten sie missachtet.

Konfrontation auf vielen Fronten

Mögliche Motive für eine Zuspitzung haben beide Staatschefs – Poroschenko wie Russlands Putin. Die Ukraine hat die Krim 2014 verloren, Russland verleibte sich die Halbinsel nach einem international nicht anerkannten Referendum ein. Aus Moskauer Sicht wurde der historische Fehler korrigiert, dass der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow die Krim 1954 von Russland der Ukraine übertragen hatte.

Im Osten der Ukraine führt Russland ebenfalls seit 2014 verdeckt Krieg. Seine Militärmacht versteckt sich hinter den separatistischen Kämpfern der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk. Mehr als 10.000 Menschen sind im Kohlerevier Donbass bisher getötet worden. Weder Separatisten noch die Ukraine halten sich an die eigentlich geltende Waffenruhe. Eine Friedenslösung, ausgehandelt unter deutscher und französischer Vermittlung, steckt fest.

In den letzten Monaten hat die Ukraine unerwartete Erfolge erzielt – auf ganz anderem Gebiet. Das Oberhaupt der weltweiten Orthodoxie, der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, der in Istanbul sitzt, will der Ukraine eine eigene, von Russland unabhängige Kirche geben. Für Moskau und seine orthodoxe Kirche wäre der Verlust von Millionen Gläubigen in der Ukraine ein schwerer Schlag. Die Eskalation auf dem Schwarzen Meer könnte auch damit zusammenhängen.

Nahende Wahl als Motiv?

Das offensichtlichere Motiv hat Poroschenko: In Kiew wurde die Aktion sofort mit der für März erwarteten Präsidentschaftswahl verbunden. Der Amtsinhaber liegt in Umfragen abgeschlagen hinter der Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. Selbst um den Einzug in eine Stichwahl müsste er bangen. Vom Parlament ließ sich Poroschenko für 30 Tage das Recht geben, in den Grenzregionen zu Russland nach dem Kriegsrecht zu regieren. Einem Vorwurf nahm er gleich die Spitze: Er wolle mit dem Kriegsrecht eine Verschiebung der Wahl erreichen. Auch die Abgeordneten schoben dem einen Riegel vor und legten die Wahl für den 31. März 2019 fest.

Ablenkung von russischer Innenpolitik

Der Konflikt spielt indes auch Putin in die Hände. Er kann so von seinen schlechten Umfragewerten ablenken, denn immer mehr Russen und Russinnen machen Putin persönlich verantwortlich für die Probleme im eigenen Land. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada veröffentlichte am Donnerstag in Moskau eine entsprechende Umfrage. Es führte den Anstieg auf die unpopuläre Pensionsreform dieses Sommers zurück. Die russische Führung hat das Pensionsalter um je fünf Jahre für Männer und Frauen erhöht.

„Es ist nicht gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, dass Putin davon nichts gewusst hat“, sagte der Lewada-Experte Denis Wolkow der Zeitung „Wedomosti“ zufolge. Der Ärger sei aber auch nicht so groß, um zu Massenprotesten zu führen.

In der seit 2012 regelmäßig durchgeführten Umfrage machte in diesem Oktober eine Rekordzahl von 61 Prozent Putin vollständig verantwortlich für die Lage im Land. Weitere 22 Prozent hielten ihn für mitverantwortlich. Damit sehen vier von fünf Russen (83 Prozent) Putin in der Pflicht. Zugleich sank der Anteil derer, die ihm bescheinigen, er habe alles richtig gemacht, sei aber an korrupten Beamten (zehn Prozent) oder schwierigen Umständen (sechs Prozent) gescheitert.