Unter allen Chronisten der ersten Monate der neuen deutschösterreichischen Republik steht Stefan Zweig heute als der mit der größten Breitenwirkung da. Dabei hat er sie eigentlich nicht direkt erlebt.
In seiner „Welt von Gestern“, beendet erst wenige Monate vor Zweigs Freitod im Exil und postum 1942 erschienen, entwirft Zweig auf wenigen Seiten ein Stimmungsbild zur jungen Republik. Der Autor, der am 28. November 1881 in Wien zur Welt gekommen ist, erinnert sich an ein Land, das „mit den alten Nachbarstaaten wieder vereinigt zu werden wünschte oder mit dem stammesverwandten Deutschland, keinesfalls aber in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein führen wollte“.

Für den jüdischen Industriellensohn Zweig, dessen Familie nie mit Aristokratie verbunden gewesen sei, so erinnert der Chef des Salzburger Stefan Zweig Centre, Klemens Renoldner, gegenüber ORF.at, sei das Habsburgerimperium „eine desolate Staatsform“ gewesen. Aber, so Renoldner: „Im Rückblick, in der ‚Welt von Gestern‘ wird er seine Lebenszeit vor 1914 idealisieren. Er beschwört das alte Österreich vor allem auch deswegen, weil er sich an eine Lebensform als Autor erinnert, die für ihn entscheidend war: immer unterwegs, alle Länder standen offen, man konnte ohne Pass reisen und sich als Intellektueller im Netzwerk europäischer Künstler bewegen.“
Wenn Helmut Andics später die Schlagworte vom „Staat, den keiner wollte“ prägte, so hatte er in Zweigs Beschreibung zur „Heimkehr nach Österreich“ eine entsprechend eindrückliche Vorlage vor sich.
Das Ich schreibt Weltgeschichte
Wirkungsvoll ist vor allem Zweigs Modellierung von Geschichte: Weltereignisse überkreuzen sich mit dem persönlichen Erleben und Erinnern des Erzählers; ja erst die Anwesenheit dieses Ichs an den Orten der Geschichte verbürgt die Nachvollziehbarkeit der Historie. Dass sich Zweig dabei wenig um ästhetische Avanciertheit kümmerte, wurde ihm von der Forschung oft negativ ausgelegt. Beim Publikum kam gerade diese mitreißende Form des Geschichtsnarrativs umso breitenwirksamer an.

Zweig wird ja bei seiner Zugsreise nach Österreich am 24. März 1919 in ein Land fahren, in dem erwachsene Männer und Frauen immerhin erstmals in der Geschichte einen fixen Nationalrat gegründet haben. Die Träume junger, wilder Literaten wie Egon Erwin Kisch oder Franz Werfel von einem erhofften revolutionären Umbruch sind zu diesem Moment ausgeträumt. Deutschösterreich befindet sich als Republik auf dem Weg zu den „Friedensverhandlungen“ von Saint-Germain, bei denen alle Hoffnungen auf ein Entkommen vor der Kriegsverantwortung enttäuscht werden sollten.
Stefan Zweig, der heimatlose Europäer
Ein Porträt von Stefan Zweig und seinem Versuch, als Europäer in der Zeit zwischen den Kriegen seine literarischen und politischen Positionen zu finden.
„Zweig begrüßte die neuen Republiken und neuen Staatsgründungen“, hält Renoldner fest und fügt hinzu: „Bemerkenswert ist, dass er die Verhältnisse in Österreich und in Wien weitgehend aus den Augen verliert. Sein Interesse konzentriert sich, wie wir das etwa den Briefen an seinen Freund Romain Rolland entnehmen können, ganz auf Deutschland.“

Begegnung mit einer 700-jährigen Geschichte
Zweigs Erinnerung an die Heimkehr nach Österreich als junger, erfolgreicher Autor ist eine, den der ältere Schriftsteller aus den Erfahrungen des Exils in den Blick nimmt. So wird die Rückkehr nach Österreich von Anfang an auch als ein Stück Weltliteratur gedacht und das Ich in seinem Text, es ist schon eine beinahe literarische Figur, die sich daran erinnert, wie fern ihm damals die Heimat geworden war – und wie arm dieses Land wohl sein würde, das ihn da erwartete. „Eine Fahrt nach Österreich erforderte damals Vorbereitungen wie eine Expedition in ein arktisches Land“, hält er im Rückblick der „Welt von Gestern“ fest.
In Salzburg, auf dem Kapuzinerberg, hat er mit seiner Lebensgefährtin und späteren Frau Friederike eine alte verfallene Villa erworben, die bis zur Mitte der 30er Jahre sein Domizil werden würde. Die Heimkehr, dieses „vom Standpunkt der Logik Törichteste, was ich nach dem Zusammenbruch der deutschen und österreichischen Waffen tun konnte“, gestaltet Zweig als Begegnung mit dem Untergang einer siebenhundertjährigen Geschichte. Was man anderen Autoren als monumentalen Größenwahn auslegen würde, gestaltet Zweig als ergreifende Geschichtsstunde in der Ich-Form – wie gut, darf sich der ergebene Leser hier denken, dass er für uns alle dabei war.

In Buchs, dem Übertrittsort von der Schweiz nach Österreich, wo Zweig vom gediegenen Schweizer Waggon in den sehr behelfsmäßigen österreichischen Zug umsteigen muss, erwartet man mit Nervosität die Ankunft des Zugs aus der Gegenrichtung. „Langsam, fast majestätisch rollte der Zug heran“, liest man: „Eine fühlbare Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, und ich wusste immer noch nicht, warum. Da erkannte ich in der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet den Kaiser Karl, den letzten Kaiser von Österreich.“
Zweig und die historische Minute
„Der Erbe der habsburgischen Dynastie, die siebenhundert Jahre das Land regiert hatte, verließ sein Reich!“, deklamiert der Ich-Erzähler, der schließlich zur Krönung des historischen Moments in Buchs hinzufügt: „Und nun sah ich seinen Erben, den letzten Kaiser von Österreich, als Vertriebenen das Land verlassen. Die ruhmreiche Reihe der Habsburger, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich Reichsapfel und Krone von Hand zu Hand gereicht, sie war zu Ende in dieser Minute.“

Unwahrscheinlich ist, dass der Vielschreiber Zweig, der ja auch den Alltag in unzähligen Brief festhielt, diese Szene tatsächlich so erlebt hat. Bis zur Niederschrift der „Welt von Gestern“ taucht dieser historische Moment in seinen Aufzeichnungen oder Briefen nicht auf. Entscheidend ist ohnedies die Wegmarke, die der Schriftsteller hier setzt: Wie andere Autoren in den Umbruchsmonaten 1918/1919 – man denke an die Pressearbeit von Kisch für sich und die Roten Garden oder die Gegenpolemik von Karl Kraus gegen die jungen Pinscher, die einst für den Krieg waren und dann Revolution wollten – nutzt auch Zweig die historischen Momente, um seine eigene Rolle mit Bedeutsamkeit aufzuladen. In diesem Fall tut er es für die Nachwelt.
Neue Zugänge zu einem Vielschreiber
Für Renoldner, der mit dem Zweig Centre und der laufenden „Salzburger Ausgabe“ von Zweigs Werken im Zsolnay-Verlag so etwas wie eine späte kulturwissenschaftliche Repositionierung Zweigs sucht, ist Zweig gerade als Kosmopolit eine Schlüsselfigur nicht zuletzt der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Kaum ein Autor seiner Zeit war auf einer internationalen Ebene so vernetzt wie Zweig und auch verschiedenen sprachlichen Diskursen gewachsen wie dieser „Superstar der Weltliteratur“.
Vom Ruf, das „Schmuddelkind der Germanistik“ zu sein, wie es die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl mal zum Ausdruck gebracht hatte, habe man Zweig befreien können, bilanzierte Renoldner kürzlich auch gegenüber dem „Standard“ die Arbeit seiner Institution, die am Geburtstag Zweigs am Mittwochabend mit einer großen Festveranstaltung an der Universität Salzburg ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert hat.