Literaturkritiker |Ijoma Mangold
Sebastian Hänel
Mangold im Interview

„Österreicher haben höheren Esprit“

Der deutsche Literaturkritiker Ijoma Mangold hat ein Sabbatical genutzt, um sich dem erzählerischen Schreiben zuzuwenden. Anlässlich eines Wien-Besuchs au Einladung des Integrationsfonds sprach er mit ORF.at über das Resultat, seine Autobiografie „Das deutsche Krokodil“, über Angstpolitik, Trump und die Abwesenheit einer eigenen „Integrationsherausforderung“.

ORF.at: Sie haben letztes Jahr Ihre Autobiografie veröffentlicht, in der es um Ihre Geschichte als Sohn einer Deutschen und eines abwesenden nigerianischen Vaters geht. In Wien diskutierten Sie davon ausgehend Fragen zur Integration. Wie weit, würden Sie sagen, hat Ihre Geschichte überhaupt mit dem Thema zu tun?

Ijoma Mangold: Eigentlich gar nicht. Zur Integration gehört ja, dass man herkunftsmäßig aus einem anderen Kulturraum kommt und deswegen Werte, Lebensformen und Überzeugungen der Zielgesellschaft übernimmt. Das ist bei mir gar nicht der Fall, ich bin ja komplett deutsch sozialisiert. Es gab bei mir keine Integrationsherausforderung.

ORF.at: In Ihrem Buch stellen Sie sich dennoch die Frage der Assimilation. Schon als Jugendlicher hörten Sie Wagner und lasen Thomas Mann und waren, wie man da lesen kann, mit der Frage konfrontiert, ob Sie „deutscher als die Deutschen“ sein wollten.

Mangold: Den Begriff der Assimilation lehne ich, obwohl ich ihn in meinem Buch selbst eingeführt habe, eigentlich ab. Dass die Tatsache des fremden Blutes schon allein assimilierungsbedürftig ist, wäre eine rein rassistische These. Der Begriff der Überkompensation trifft es in meinem Fall besser.

ORF.at: Sie erzählen von Verhaltensweisen und Tricks, die Sie sich zugelegt haben …

Mangold: Wenn Sie nicht deutsch aussehen, dann sind gewissermaßen die Sprache und der kulturelle Habitus die letzten Methoden, die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft durchzusetzen. Ich bin jemand, der beispielsweise sehr gerne in gute Restaurants geht, und wenn Sie ein Gourmetrestaurant betreten und Sie sehen auch nur halbafrikanisch aus, dann könnte es Ihnen theoretisch leicht passieren, dass Sie der Kellner in die Küche schickt, weil er Sie für den Spüler hält. Zu dieser beschämenden Situation ist es in meinem Leben nie gekommen. Ich glaube aber, ich lebte in der Alarmbereitschaft, es könnte passieren – wollte also prophylaktisch lieber etwas dagegen tun. Folglich habe ich mir einen Habitus zugelegt, der so pompös im Auftreten ist, dass sicher kein Kellner auf diese Idee kommt.

ORF.at: Das hat offenbar gewirkt. Sie schreiben – und das mag viele überraschen –, dass Sie eigentlich nie rassistische Ausgrenzung erfahren haben.

Mangold: Buchstäbliche Diskriminierungserfahrungen habe ich tatsächlich wenige erlebt. Das heißt aber natürlich nicht, dass in der Gesellschaft, durch die ich mich bewegt habe, abweichendes Aussehen nicht subkutan zu Einstellungsveränderungen geführt hätte, auf die man seinerseits durch Verhaltensanpassung reagiert. Ob das jetzt Rassismus ist oder nicht, darüber kann man stundenlang diskutieren. Es ist so, dass jede Gesellschaft darauf reagiert, wenn Sie anders aussehen als die Mehrheitsgesellschaft – nicht notwendig in bösartiger Weise, aber sie tut es. Das ist natürlich ein Schicksal, aber es gibt tausend Schicksale, die schwerer zu tragen sind als das anderer Hautfarbe.

ORF.at: Im Genre der Migrationsliteratur erzählt Ihr Buch ja eine andere Geschichte, nämlich keine eines Opfers, sondern eine des Gelingens.

Mangold: Ja, ich glaube, wir haben diesbezüglich eine falsche Brille. Das Genre Opfergeschichte ist literarisch sehr breit bewirtschaftet worden, das des gelingenden Lebens scheint sich dagegen weniger durchgesetzt zu haben. Wobei natürlich alle Geschichten ihr Recht haben.

ORF.at: Glauben Sie, dass dieser Tage überhaupt zu viel von Diskriminierungserfahrungen die Rede ist?

Mangold: Ich finde es immer gut, wenn alles ausgesprochen wird und auf den Tisch kommt, weil wir uns nur dann ein angemessenes Bild von der Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit machen können. Wie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung gibt es auch in der Literatur immer Erweiterungen der Empirie, wenn Sie mir den Schlenkerer erlauben: Im Naturalismus wurde plötzlich erzählenswert, wie es in einer Suppenküche einer Industriegroßstadt stinkt, worüber sich ein realistischer Erzähler wie beispielsweise Fontane zuvor keine Gedanken gemacht hätte.

Die Erweiterung der Erfahrungshorizonte ist also immer gut. Einerseits. Andererseits habe ich ein Unbehagen, dass wir heutzutage alles nur in Termini der Anerkennung von Identitäten verhandeln. Weil ich doch eher die Vorstellung einer Bürgergesellschaft habe, wo wir qua unseres Status als Bürger am Gemeinwesen teilhaben und nicht qua unserer gruppenspezifischen Identität und Erzählung.

ORF.at: Was halten Sie von der These, dass Identitätspolitik unter anderem für den Aufstieg von Trump oder, allgemeiner gesprochen, den Rechtspopulismus, verantwortlich ist?

Mangold: All diese Phänomene sind viel zu groß, und es gibt dafür sicher keine monokausalen Erklärungen. Aber eines scheint mir klar zu sein: Das linksliberale Bürgertum hat sich in den letzten Jahren mit keinem Thema so sehr beschäftigt wie mit Identitätspolitik und hat Fragen der Klasse oder der politischen Ökonomie ausgeblendet. Dass es aber auch Benachteiligung, Elend und Unglück gibt, wenn ein Teil der Mehrheitsgesellschaft auf der unteren Sprosse der Gesellschaftsleiter steht, dafür hatten wir kein Vokabular. Insofern wundert es mich nicht, dass sich mit dieser Form des Politikverständnisses viele Menschen vor den Kopf gestoßen fühlen.

ORF.at: „Zwischen Abgrenzung und Assimilation“ heißt die Wiener Veranstaltung im Untertitel. Welche Rolle, würden Sie sagen, spielen gemeinsame Werte für eine gelingende Gesellschaft?

Mangold: Ich glaube, die Menschen müssen nicht in Ringelpietz zusammenrücken und kuscheln. Gesellschaften funktionieren auch immer über die Distanz und die Anonymität. Das ändert aber nichts daran, dass bestimmte gemeinsame Spielregeln und vermutlich auch ein bestimmtes kollektives Bewusstsein für das, was die eigene Nation ausmacht, dann doch wieder notwendig sind. Ich glaube, Einwanderungsländer leben klassischerweise von einer Kombination aus Selbstbewusstsein und Offenheit.

ORF.at: Was halten Sie in dem Zusammenhang von einem Kopftuchverbot an Volksschulen, wie das aktuell in Österreich diskutiert wird?

Mangold: Zu vielen Fragen, bei denen sich die Leute die Köpfe einschlagen, habe ich keine Meinung. Man streitet ja auch deswegen darüber, weil es eine zwiespältige, ambivalente und komplexe Angelegenheit ist. Die westlichen Nationen sind in meinen Augen immer dann stark, groß und souverän, wenn sie diese Abwägung auf eine ruhige und nicht hysterische Weise zu tun vermögen.

ORF.at: Stichwort Hysterie: Haben Sie eine Antwort darauf, wie wir der derzeit sehr präsenten Angstpolitik begegnen können?

Mangold: Schwierige Frage. Auf jeden Fall stimme ich der Diagnose zu, dass Angst tatsächlich wieder ein großer Faktor der Politik ist und das ist immer schlecht. Angst ist ein schlechter Ratgeber, sie führt zu schrecklich verzerrten Wirklichkeitsbeobachtungen. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Antwort darauf sein kann, zu sagen, ‚das gibt es doch alles gar nicht‘, also Probleme auszublenden, damit niemand auf die Idee kommen könnte, es gibt eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die besorgniserregend ist.

Ich glaube, diesen Weg hat man in den Nullerjahren sehr stark eingeschlagen. Große Problemfelder im Umfeld der Migrationsfragen durften lange gar nicht angesprochen werden, was sich jetzt rächt, weil man den Freunden der Migration jetzt vorwerfen kann, sie seien Wirklichkeitsflüchtlinge.

ORF.at: Hat sich der Rassismus in den letzten Jahren in Ihren Augen verändert?

Mangold: Ja, in den letzten zehn, 15 Jahren hat er sich weg von der Hautfarbe hin zu einem kulturellen Rassismus entwickelt. Es gibt ja heute keine Rassisten mehr, die glauben, eine bestimmte Rasse wäre minderwertig. Das ist übrigens eine halbwegs beruhigende Nachricht: Heute will keiner ein Rassist sein. Das war bis 1945 noch anders, da brüstete man sich damit, einen besonders scharfen Blick für die Minderwertigkeit anderer Rassen zu haben. Heute verbitten sich das selbst Ideologen am rechtsextremen Rand.

ORF.at: Von Deutschland nach Österreich kommend – bemerken Sie Unterschiede darin, wie man mit Ihnen umgeht?

Mangold: Österreich ist weniger politisch korrekt als Deutschland. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Österreicher einen höheren Esprit haben und damit mehr Lust am Sprachspiel, an der Provokation und der Herausforderung. Wien im Speziellen war immer schon viel multikultureller als Deutschland und hatte immer eine größere Direktheit in der Aussprache dieser Umstände.

ORF.at: Das meinen Sie ohne Wertung?

Mangold: Ja, wie ich fast alles ohne Wertung sage. Ich finde es seltsam, dass man alles werten muss. Österreichisch und Deutsch, das sind zwei wunderschöne Lebensformen, aber sie unterschieden sich ganz gewaltig.