Theresa May
Reuters/Henry Nicholls
Reißleine gezogen

„Brexit“-Abstimmung in London verschoben

Die Niederlage im britischen Parlament hatte sich längst angekündigt. Am Montag, einen Tag vor dem geplanten Votum über den „Brexit“-Deal mit der EU, zog Premierministerin Theresa May die Reißleine: Sie sagte kurzerhand die Abstimmung ab. Zudem kündigte sie Nachverhandlungen mit Brüssel an – was die EU aber kategorisch ablehnt.

Die Anzeichen für eine Verschiebung hatten sich zuvor schon gemehrt. Am Nachmittag trat May dann vor das Londoner Unterhaus und bestätigte, dass das Votum am Dienstag nicht stattfinden werde. Wann die Abstimmung nun abgehalten werden soll, war unklar. In britischen Medien wurde spekuliert, dass ein neuer Termin am 21. Jänner anberaumt werden könne – es wäre der letztmögliche. Damit wolle May den Zeitdruck erhöhen.

Zur Abstimmung gekommen wäre der knapp 600 Seiten dicke Ausstiegsvertrag mit der EU. Er sollte die Regeln für den Austritt Großbritanniens nach 45 Jahren Mitgliedschaft juristisch verbindlich festlegen. Daneben gibt es noch eine unverbindliche Erklärung zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Sowohl die Opposition als auch Teile der Torys hatten gegen das Austrittsabkommen rebelliert.

May im Parlament ausgelacht

Beide Dokumente wurden vor gut zwei Wochen auf einem Sondergipfel in Brüssel von den Staats- und Regierungschefs der restlichen 27 EU-Länder unterzeichnet. Die Briten hatten im Sommer 2016 in einem Referendum mit knapper Mehrheit für das Ausscheiden aus der EU gestimmt. May reichte im März 2017 den Austritt offiziell in Brüssel ein. Seitdem läuft der Countdown von zwei Jahren bis zum 29. März 2019.

„Ich habe sorgfältig dem zugehört, was in dieser Kammer und außerhalb gesagt wurde. Es gab viel Unterstützung für viele Schlüsselaspekte dieses Abkommens“, so May, deren Rede von den Abgeordneten mit Gelächter quittiert wurde. Der gesamte Deal würde aber nicht durch das Parlament kommen. „Ich möchte also nicht damit fortfahren, dieses Haus zu spalten“, sagte May.

Streitpunkt „Backstop“

In London stieß zuletzt der „Backstop“ auf scharfe Kritik: Diese Auffanglösung soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland vermeiden, falls nach einer 21-monatigen Übergangsfrist immer noch keine Lösung gefunden ist. In diesem Fall würde Nordirland auf einigen Gebieten enger mit der EU verbunden bleiben als das restliche Großbritannien.

May im Parlament ausgelacht

Am Montag begründete die britische Premierministerin unter Gelächter der Abgeordneten die kurzfristige Verschiebung des Votums damit, dass eine Mehrheit fehle. Ein Ersatztermin steht noch nicht.

Ohne Backstop gebe es aber kein Abkommen, sagte May. Sie werde ihren EU-Kollegen die „klaren Bedenken“ des britischen Unterhauses vortragen und „weitere Zusicherungen“ aus Brüssel verlangen. Ein erfolgreicher „Brexit“ erfordere Kompromisse auf allen Seiten. Weder die Anhänger eines zweiten Referendums noch die Befürworter eines Verbleibens im Binnenmarkt noch die Befürworter eines ungeordneten „Brexits“ hätten eine Mehrheit. Angesichts der Lage beschleunige die Regierung die Vorbereitungen für einen harten „Brexit“.

Die Entscheidung schickte am Montag das britische Pfund auf Talfahrt. Es verlor zum US-Dollar wie auch zum Euro 1,5 Prozent an Wert. Die Währung fiel auf ein Eineinhalbjahrestief.

Opposition in Furor

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hatte May schon zuvor „Feigheit“ vorgeworfen. Ihre SNP stehe für ein Misstrauensvotum gegen die Regierung bereit, ließ sie wissen. Die Abgeordneten ihrer Partei im Unterhaus würden einen Antrag der Labour Party unterstützen, der Regierung das Misstrauen auszusprechen.

Oppositionsführer Jeremy Corbyn sagte, Großbritannien habe keine funktionierende Regierung. Corbyn forderte May zum Rücktritt auf.

Brüssel will nicht mehr nachverhandeln

Anders als May es nun anscheinend plant, will die EU das mühsam vereinbarte „Brexit“-Paket nicht mehr aufschnüren. „Wir werden den Deal – einschließlich des Backstops – nicht neu verhandeln“, bekräftigte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Montagabend via Twitter. „Aber wir sind bereit zu diskutieren, wie die Ratifikation in Großbritannien bewerkstelligt werden kann.“ Da die Zeit vor dem für 29. März angekündigten britischen EU-Austritt davonlaufe, werde man auch die Vorbereitungen für einen „Brexit“ ohne Vertrag diskutieren, schrieb Tusk weiter.

Für Donnerstag berief Tusk einen Gipfel der 27 bleibenden EU-Staaten ein, wie er ebenfalls via Twitter mitteilte. Tusks Sprecher ergänzte, man sei in Kontakt mit der britischen Seite und bespreche das weitere Vorgehen. Tusk berate zudem mit den EU-Staats- und -Regierungschefs über die Vorbereitung für Donnerstag. Für Donnerstag und Freitag ist ohnehin ein EU-Gipfel angesetzt, zu dem auch May kommt. Das Treffen der 27 ohne Großbritannien kommt nun hinzu. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kündigte für Dienstag eine Rede im Europaparlament an.

EuGH gibt London Option zu „Brexit“-Stopp

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte kurz zuvor per Grundsatzurteil den Weg für einen „Brexit“-Stopp geebnet: Es stehe der britischen Regierung frei, eigenmächtig aus dem laufenden Austrittsverfahren aus der EU auszusteigen, teilte der EuGH mit. London könne also einseitig, ohne Zustimmung der übrigen EU-Länder, den Austritt noch stoppen. Damit korrigierte das Gremium aus Luxemburg die bisherige Rechtsmeinung in Brüssel, dass die übrigen 27 EU-Länder zustimmen müssten.

Die Entscheidung müsse aber Ergebnis eines demokratischen Prozesses in Großbritannien sein und „eindeutig und bedingungslos“ an die EU gemeldet werden. Der Schritt hätte den Effekt, dass das Land zu den derzeitigen Bedingungen in der EU bleiben könnte und das „Brexit“-Verfahren beendet würde, hieß es in der Urteilsbegründung. Bisher schloss man in London jedoch eine neue Volksabstimmung kategorisch aus.

Merkel empfängt May

Am Dienstag wird May von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin empfangen – „auf Wunsch der britischen Seite“, wie Regierungssprecher Steffen Seibert am Montagabend mitteilte. Nach Angaben aus London wird May vor dem Termin am frühen Nachmittag den niederländischen Regierungschef Mark Rutte in Den Haag treffen.