Britische Premierminsiterin Theresa May
Reuters/Annegret Hilse
„Brexit“-Chaos

Misstrauensvotum gegen May

Das Chaos um den Austritt Großbritanniens aus der EU geht weiter: Die britische Premierministerin Theresa May muss sich einem Misstrauensvotum im Parlament stellen. Die Schwelle für die erforderliche Zahl an konservativen Abgeordneten sei erreicht worden, teilte der zuständige Ausschussvorsitzende am Mittwoch mit. Eine Abstimmung sei noch für den Abend geplant.

Damit entzogen bisher mindestens 48 Abgeordnete der Regierungschefin schriftlich das Vertrauen. So viele sind für die Einleitung eines Misstrauensvotums nötig. Um May als Parteichefin und damit als Premierministerin zu stürzen, muss die Mehrheit der 315 Tory-Abgeordneten bei einer Abstimmung für ihre Abwahl votieren. Verliert May, wird ein neuer Parteichef bestimmt. Gewinnt sie, darf innerhalb eines Jahres kein neuer Misstrauensantrag gestellt werden.

May zeigte sich in einer ersten Reaktion kämpferisch. „Ich werde mich diesem Votum mit allem, was ich habe, entgegenstellen“, sagte May in London. Sie verwies zudem auf Fortschritte bei den Verhandlungen mit EU-Spitzenvertretern. Ein Deal mit der EU sei May zufolge möglich. Durch das Misstrauensvotum gegen sie werde jedoch die Zukunft aufs Spiel gesetzt.

Austrittsdatum wackelt

Sollte May die Abstimmung verlieren, könnte das freilich merkliche Auswirkungen auf den „Brexit“-Prozess haben. Laut Justizminister David Gauke müsste Großbritannien in diesem Fall den EU-Austritt verschieben. „Was die Verhandlungen mit der Europäischen Union anbelangt, ist es meines Erachtens unvermeidlich, dass bei einer Abstimmungsniederlage heute Artikel 50 verschoben werden muss“, sagte Gauke im BBC-Radio. „Ich glaube nicht, dass wir am 29. März die Europäische Union verlassen würden.“ Aus der Regierung bekam May am Mittwoch freilich Rückendeckung. Innenminister Sajid Javid sagte, die Regierungschefin genieße seine volle Unterstützung. Auch Außenminister Jeremy Hunt betonte, dass er May stützen werde.

Bitttour durch Europa

Angesichts einer politischen Blockade in London kämpft May derzeit um Zugeständnisse der Europäischen Union beim „Brexit“-Abkommen. Vor allem geht es um die vereinbarten Sonderregeln für Irland, die dort auch nach dem britischen EU-Austritt offene Grenzen garantieren sollen. Dieser „Backstop“ trifft bei strikten „Brexit“-Befürwortern in Großbritannien auf Widerstand. May hat deshalb keine Mehrheit im Parlament für den Austrittsvertrag mit der EU und musste die Abstimmung darüber in letzter Minute verschieben.

May ringt nun um neue „Zusicherungen“ der EU und flog bereits am Dienstag kreuz und quer durch halb Europa. Nach Treffen mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte in Den Haag und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin traf sie am Abend EU-Ratschef Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Irland-„Backstop“ „bleibt unangetastet“

Die ORF-Korrespondentinnen Eva Pöcksteiner (London) und Raphaela Schaidreiter (Brüssel) analysieren die Möglichkeiten beim „Brexit“-Streitthema „Backstop“.

Tusk und auch Juncker hatten bereits vor dem Treffen am Abend in Brüssel Neuverhandlungen neuerlich ausgeschlossen. „Der Deal, den wir erreicht haben, ist das Beste, was wir bieten können. Das ist der einzige Deal. Es gibt keinen Raum für Neuverhandlungen“, war Juncker zitiert worden. Tusk hatte sich lediglich bereit gezeigt zu „diskutieren, wie die Ratifizierung durch das Vereinigte Königreich erleichtert werden kann“. Neuverhandlungen gebe es aber nicht.

Kurz weiter gegen Aufschnüren des Abkommens

Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sprach sich am Mittwoch weiterhin gegen ein Aufschnüren des „Brexit“-Abkommens aus. Die Debatte in Großbritannien verfolge man natürlich, und das mache die Sache auch nicht einfacher, sagte Kurz nach dem Ministerrat in Wien. Der Kanzler reist am Mittwoch nach Brüssel zum letzten Europäischen Rat des Jahres – dieser sei von der „Brexit“-Debatte überschattet.

Als EU habe man eine klare Linie, es soll das ausgehandelte Abkommen für den Austritt Großbritanniens aus der EU nicht wieder aufgeschnürt werden. Möglich sei jedoch eine Diskussion über die künftige Beziehung, und hierzu gebe von allen Seiten das gemeinsame Wollen, eine gute Lösung zustande zu bringen. Die aktuelle Situation in Großbritannien vereinfache die Lage jedenfalls nicht. Man sei aber auf alle Szenarien vorbereitet, so Kurz. Klares Ziel sei weiterhin, einen „Hard Brexit“ zu verhindern und den Austritt „in geordnetem Maße“ stattfinden zu lassen.