Großbritanniens Premierministerin Theresa May
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„Brexit“-Sackgasse

May misslingt Durchbruch in Brüssel

Die britische Premierministerin Theresa May hat beim EU-Gipfel nicht ihren erhofften Durchbruch erzielen können. Sie rang der EU im erbitterten Streit über den „Brexit“ zwar neue Zusicherungen zur irischen Frage ab. Auf ihren Wunsch nach weiteren Verhandlungen reagierten die Regierungschefs aber eher ratlos. Und auch in London gerät May erneut unter Druck.

Der Deal habe keine Chance, lautet das Urteil der britischen Oppositionspartei Labour am Freitag. Einem Bericht der britischen Tageszeitung „Telegraph“ zufolge steht sogar ein neuerliches Misstrauensvotum gegen die Regierungschefin im Raum. Die Labour-Politiker Tom Watson und Sir Keir Starmer würden ihren Parteichef Jeremy Corbyn dazu drängen, noch vor Weihnachten bei der Regierung einen Antrag auf ein Misstrauensvotum gegen May einzubringen. Erst vor wenigen Tagen überstand diese ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Tory-Partei.

Als „Versagen“ wird Mays Besuch in Brüssel in der Zeitung „The Guardian“ bezeichnet. „Theresa May kehrt mit leeren Händen aus Brüssel zurück“, heißt es im „Guardian“. Außerdem kehre sie auch ohne Hoffnung auf weitere Verhandlungen über den „Backstop“ zurück. Aufgrund des ausbleibenden Erfolgs stehe sie nun „brutal entblößt“ da. Ähnlich verheerend lautet das Urteil der Zeitung „Financial Times“. May laufe Gefahr, ihren ausgehandelten Deal zu „zerschmettern“.

May lobt Zugeständnisse

Zuvor lobte May die EU nach dem Gipfel in Brüssel für Zugeständnisse in der Irland-Frage. Doch sie wolle weitere Gespräche, um einen Ausweg aus der „Brexit“-Sackgasse zu finden. Bereits „in den kommenden Tagen“ sollten May zufolge Vertreter beider Seiten ihre Gespräche aufnehmen.

„Meine Beratungen mit den Kollegen heute haben gezeigt, dass weitere Klärungen und Diskussionen in der Tat möglich sind“, sagte sie. Ihr Parlament benötige weitere Zusicherungen über die in Brüssel abgegebenen Zusagen hinaus. Sie widersprach Berichten, wonach die EU das ausgeschlossen habe. May will zusätzliche Zusicherungen zu der umstrittenen Nordirland-Klausel im „Brexit“-Abkommen erreichen.

Mit neuen Zusicherungen soll dem britischen Parlament, wo es derzeit für das Abkommen keine Mehrheit gibt, die Ratifizierung erleichtert werden. Die Gespräche über das „Brexit“-Abkommen waren im November nach 17 Monaten beendet worden. Auf einem EU-Sondergipfel billigten die restlichen 27 EU-Staaten den Austrittsvertrag. Den Vertrag will die EU nun nicht wieder aufschnüren.

„Robuste Gespräche“ mit Juncker

Generell war die Stimmung auf dem Gipfel gereizt. Nach den zähen Gesprächen gerieten May und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aneinander. Stein des Anstoßes war Junckers Äußerung vom Donnerstagabend, die „Brexit“-Gespräche mit den Briten seien „nebulös und unpräzise“. May wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Sie stellte Juncker zur Rede, als sie ihn am Freitagmorgen im Ratsgebäude traf.

Eine Kamera hielt die Szene im EU-Ratsgebäude fest, der britische Sender Channel 5 ließ sie von einem Experten für Lippenlesen untersuchen. „Wie haben Sie mich bezeichnet?“, habe May den Kommissionspräsidenten angeherrscht. „Sie haben mich als nebulös bezeichnet. Ja, das haben Sie gemacht.“ Nach dem Gipfel erklärte May, mit Juncker ein „robustes“ Gespräch geführt zu haben. „Ich habe den Begriff ‚nebulös‘ nicht auf sie bezogen, sondern auf die Debatte über ‚Brexit‘ grundsätzlich. Ich habe großen Respekt vor May“, sagte Juncker bei der Abschlusspressekonferenz.

Bundeskanzler Kurz: „Bereiten uns auf harten Brexit vor“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) beschreibt einen harten „Brexit“, also einen ungeordneten EU-Austritt Großbritanniens, als letzte Konsequenz. Dennoch werden Vorbereitungen für dieses Szenario getroffen.

Der EU-Ratsvorsitzender und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nannte einen harten „Brexit“ in der ZIB2 als letzte Konsequenz und bekräftigte die EU-Position zum „Backstop“. „Wir haben unterschiedliche Positionen, aber das ist alles“, sagte er bereits nach dem Gipfel. May habe hart verhandelt und ihre Positionen klar vermittelt. „Nicht alle Gerüchte stimmen“, so Kurz.

Tusk: Kein Mandat für neue Verhandlungen

EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte nach dem Gipfel, dass das „Brexit“-Abkommen „nicht neu verhandelt werden kann“ – man habe kein Mandat für weitere Verhandlungen. Ferner sei der „Backstop“ als „Versicherung“ gedacht, um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden. Die EU sei fest entschlossen, rasch an einem Folgeabkommen zu arbeiten, das bis 31. Dezember 2020 alle Vorkehrungen festlegt, damit der „Backstop“ als Notfalllösung nicht ausgelöst werden muss.

Andreas Pfeifer (ORF) zum EU-Gipfel

Andreas Pfeifer von der ZIB-Außenpolitik spricht über den EU-Gipfel zum „Brexit“. Der Verhandlungsspielraum sei ausgereizt, berichtet Pfeifer.

Juncker sagte, er habe im britischen Unterhaus Misstrauen gegenüber der EU geortet. Die EU wolle zwar ein Abkommen, aber man werde auch die Vorbereitungen auf einen „No Deal“-Ausstieg weiterführen. In der kommenden Woche werde die Kommission einen Leitfaden für einen solchen „harten Brexit“ vorlegen.

Merkel: Deal „ist verhandelt und gilt“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel betonte nach dem Gipfel, dass das „Brexit“-Abkommen „verhandelt ist und gilt“. Niemand wolle einen ungeregelten Austritt. Wenn das Abkommen im britischen Parlament angenommen werde, könne man mit dem Ausverhandeln der künftigen Beziehungen beginnen.

Merkel erklärte, May habe über ihre Sorgen vor allem beim „Backstop“ berichtet, dass keine frei gewählte Partnerschaft zwischen London und der EU möglich sein könnte. „Wir haben deutlich gemacht, dass es wichtig für uns, gute Beziehungen zu haben und dass sich jeder Partner frei entwickeln kann. Wir wollen eine enge Partnerschaft mit Großbritannien und den ‚Backstop‘ nur als Rückversicherung“ haben.

Man werde sehen, wie May jetzt darauf reagiere. Die EU habe ihre Sicht verdeutlicht. „Wir wollten hilfreich sein, aber in dem Rahmen, dass das Austrittsabkommen so bleibt, wie es ist.“ Das Dokument darüber habe den Charakter von Schlussfolgerungen der EU-27.

„Nachverhandeln vorbei! Basta! Genug!“

In Brüssel wurde vor allem kritisiert, dass May ihre Erwartungen an die EU nicht klar genug formuliert habe. „Wir müssen auch einmal wissen, was genau London will“, sagte etwa Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel Freitagfrüh. Bettel warnte May davor, die Geduld der EU-Partner durch eine Hinhaltetaktik überzustrapazieren. „Wir werden nicht Gipfel auf Gipfel auf Gipfel machen“, sagte er. Neue Zugeständnisse seitens der EU schloss er unmissverständlich aus: „Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nachverhandeln vorbei! Basta! Genug!“

Noch deutlicher wurde die Kritik in EU-Kreisen formuliert. Merkel habe May während des Vortrags mehrfach unterbrochen und zur Präzisierung ihrer Haltung aufgefordert, hieß es. Die Stimmung sei „sehr schlecht“ gewesen. Die EU-Chefs hätten der Premierministerin einige Wochen Zeit gegeben, um darzulegen, „was die Briten wollen“.

Jean-Claude Juncker und Donald Tusk
AP/Alastair Grant
EU-Ratspräsident Tusk versicherte, dass der „Backstop“ nur vorübergehend sei

Varadkar mit Gipfelerklärung zufrieden

Der irische Premierminister Leo Varadkar betonte nach dem Gipfel, mit den Ergebnissen zufrieden zu sein. Er freue sich, dass die EU-27 nicht bereit für eine Neuverhandlung des Austrittabkommens sei. „Wir wollen unser Bestes geben, dass ein ‚Backstop‘ nicht nötig wird.“ Auch eine Verlängerung der Übergangsphase solle vermieden werden, sagte Varadkar.

Alle Staats- und Regierungschefs würden verstehen, dass die „Backstop“-Lösung nötig sei, um den Frieden in Nordirland zu erhalten. Auch werde dazu sichergestellt, dass eine offene Grenze keine Hintertür zum Binnenmarkt werde, sowie, dass keine Seite in den Verhandlungen Druck mit einer harten Grenze machen könne. „Das ist eine Allwetterversicherung und heißt, dass alle Seiten Verhandlungen über Zukunftslösungen aufnehmen können, ohne Angst haben zu müssen, dass eine harte Grenze kommt.“

Alle Fragen könnten behandelt werden, wenn Westminister entschieden habe. „Irland und die EU bedrohen niemanden mit einem ‚No Deal‘. Es ist rein eine Entscheidung, die Großbritannien trifft“, sagte Varadkar. Er selbst möchte so hilfreich wie nur möglich sein, sagte der irische Premier, aber es gebe Grenzen. „Man kann die EU-27 nicht dazu bringen, etwas anderes, als im Austrittsvertrag drinnen steht, zu sagen.“