Eindrücke aus dem Norden Serbiens
ORF.at/Marina Lackovic
Interview

Ein Rückkehrer erzählt

Zahlreiche Gastarbeiter haben den serbischen Ort Setonje schon seit 1966 auf der Suche nach Beschäftigung verlassen – viele von ihnen in Richtung Österreich. Es ist ein Dorf, in dem fortgezogene Bewohnerinnen und Bewohner oft große Häuser bauten, aber selbst nur noch Gäste sind. Ein Lokalaugenschein.

Laut der letzten Erhebung zählt das Dorf 1.992 Einwohner, 566 von ihnen leben im Ausland. Einer der ersten Gastarbeiter des Dorfes lebt mittlerweile aber wieder dauerhaft hier. Der 1932 geborene Mihaljo Rankovic arbeitete jahrelang in Australien, Österreich und anderen EU-Ländern. Sein hart erarbeitetes Vermögen hat er in landwirtschaftliche Maschinen, mehrere Geschäftslokale in Setonje sowie sein eigenes Zuhause direkt im Ortszentrum investiert.

Rund um das Kriegerdenkmal und die Bushaltestelle im Zentrum des Ortes liegen mehrere Lokale – neun davon gehören Rankovic. Zwei seiner Lokale stehen im Moment leer, da sich kein Pächter finden lässt – es fehle an Kundschaft, erzählt Rankovic. Im Wintergarten seines dreistöckigen Domizils, dessen Architektur ein wenig an ein Disney-Schloss erinnert, erzählt der 87-Jährige – bei Kaffee, einer Zigarette und einem Glas Rakija: über seine Zeit als Gastarbeiter, warum er in den 1960er Jahren auswanderte – und schließlich wieder zurückkehrte.

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Setonje wirkt auf den ersten Blick etwas belebter als die kleineren Dörfer in der Umgebung
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Im Zentrum erinnert ein Mahnmal an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Dorfbewohner
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Die Annoncen im Wartehäuschen der Bushaltestelle verraten, wie es um das Ortsleben steht
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An der Bushaltestelle werden unter anderem günstige Fahrten ins Ausland beworben. 20 Euro kostet laut diesem Plakat eine Fahrt von Serbien nach Österreich.
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Gleich daneben hängt die Anzeige einer slowakischen Agentur, die Arbeit im EU-Ausland anbietet
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Dauerhaft im Dorf leben vor allem ältere, alleinstehende Menschen. Für sie bietet hier etwa eine „ehrliche und fleißige“ Frau ihre Dienste als Pflegerin und Haushaltshilfe an.
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Herr Rankovic lebt schon lange wieder mit seiner Frau in seinem Haus in Setonje. Das Haus ist für die beiden eigentlich zu groß. Doch die restliche Familie lebt in der Schweiz.
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Im Hinterhof befindet sich in einer Art Garage Herrn Rankovics Fuhrpark
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Herr Rankovic vor einem seiner Geschäfte

ORF.at: Herr Rankovic, warum haben Sie in den 1960er Jahren Serbien verlassen?

Mihaljo Rankovic: Sehen Sie, uns hat die Krise in die Welt hinausgetrieben. Nicht nur in Setonje und diesem Bezirk, sondern in ganz Serbien. Der Kommunismus hat den Menschen alles weggenommen. Ich erinnere mich noch genau an meinen Großvater, der im Ersten Weltkrieg Gefangener war und von den Amerikanern per Post Pakete bekam – eine Form der Entschädigung. Bei der Post gab es für meinen Großvater in dem Paket aber nur ein Stück Seife abzuholen – den Rest haben die Kommunisten einkassiert. Das werde ich nie vergessen. Heute glauben viele junge Serben, dass der Kommunismus gut war, weil sie dumm sind und weil sie ihn nicht erlebt haben.

Entschieden habe ich also eigentlich nichts, ich musste auswandern, die Umstände haben mich dazu gezwungen. Die damalige Regierung hat jeden dritten Monat Steuern kassiert, und von meinem Verdienst in Rudnik konnte ich die Ausgaben nicht mehr decken und meine Familie nicht mehr erhalten, also bin ich ausgewandert. Zudem traf das Dort im Jahr 1966 ein großes Unwetter – solche Hagelkörner habe ich nie wieder in meinem Leben gesehen. Die ganze Ernte war vernichtet, die Häuser beschädigt. Die Leute konnten weder ihre Familien noch ihr Vieh ernähren, also machten sie sich auf die Suche nach Verdienstmöglichkeiten im Ausland.

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Herr Rankovic vor einem seiner Geschäfte

ORF.at: Welcher Arbeit sind Sie nachgegangen?

Rankovic: Ich heuerte bei Herrn Ludwig Gapp an, dort habe ich Betonblöcke produziert. Ich sprach ein wenig Deutsch aus der Abendschule, also gab mir der Chef die Aufgabe, weitere Arbeiter auszuwählen.

ORF.at: Für wen haben Sie sich entschieden?

Rankovic: Für meinen Trauzeugen, meinen Cousin und einen engen Freund.

ORF.at: Wie war die Arbeit in Österreich für Sie?

Rankovic: Gut, wie waren zufrieden. Der Chef war sehr korrekt und höflich, ich kann mich nicht beklagen.

ORF.at: Weshalb sind Ihre Frau und Ihre Kinder nicht zu Ihnen nach Österreich gezogen?

Rankovic: Das wäre viel zu teuer gewesen, eine Wohnung hätte ich mir nicht leisten können. Ich arbeitete dort nur eine Saison lang: von August bis Dezember. Im Jahr darauf bin ich wieder auf Saisonarbeit nach Österreich gefahren, aber bei einer anderen Firma, eine Baufirma, die Tunnel und Straßen baute, leider habe ich den Namen des Unternehmens vergessen.

Wir waren 40 bis 50 Männer aus aller Herren Länder: Serbien, Bosnien, Dalmatien, Italien, auch Österreicher haben mit uns an diesem Tunnel gearbeitet. Eines Tages bekamen wir die Information, dass man in Australien arbeiten könne – die englische Bank würde die Überfahrt bezahlen und uns mit unseren Arbeitgebern in Verbindung bringen. Ich habe mich also angemeldet, ein Visum beantragt und war der erste Mann aus Setonje in Australien.

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Abseits der Hauptstraße offenbart sich besonders deutlich, wie sehr der Ort vom Wegzug betroffen ist

ORF.at: Wie lange waren Sie in Australien?

Rankovic: Fünf Jahre lang.

ORF.at: Haben Sie in dieser Zeit Ihre Frau und Ihre Kinder besucht?

Rankovic: Nein, das wäre viel zu teuer gewesen. Es war sehr schwer für mich, so weit von Ihnen entfernt zu leben, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste sparen, also habe ich durchgebissen. Alle 15 Tage habe ich meinen Lohn bekommen – und alle 15 Tage habe ich meiner Frau einen Brief mit einem beigelegten Scheck geschickt, dieser Brief wiederum brauchte 15 Tage, bis er meine Frau erreichte.

ORF.at: Und nach fünf Jahren Arbeit in Australien hatten Sie genug gespart um in die Heimat zurückzukehren?

Rankovic: Nach fünf Jahren, im Jahr 1972 kam ich zurück nach Setonje und versuchte, hier Fuß zu fassen, allerdings gelang mir das nicht – also bin ich wieder nach Europa und habe dort gearbeitet. Ich war überall: In der Schweiz, in Italien und in Österreich.

ORF.at: Sind Ihre Kinder immer in Serbien geblieben?

Rankovic: Nein, diese sind in die Schweiz ausgewandert – meine Tochter und mein Sohn haben dort bis zur Pension gearbeitet. Meine Enkelin hat bis zu ihrem 16. Lebensjahr bei uns gelebt – sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, ist auch sie in die Schweiz gegangen, dort arbeitet sie heute als leitende Krankenschwester, ich bin sehr stolz auf sie. Sie besuchen mich, wenn sie Urlaub haben.

ORF.at: Mir scheint, dass Setonje verglichen mit dem Dorf Orljevo nicht so sehr unter der Depopulation leidet. Würden Sie dieser Beobachtung zustimmen?

Rankovic: Täuschen Sie sich nicht, immerhin sind wir hier im Ortszentrum, wo alle zusammenkommen. Wenn Sie einen der Wege links und rechts wählen, egal welchen, werden Sie dort außerhalb der Saison absolut niemanden antreffen. Jedes zweite Haus steht leer, und in den anderen werden Sie nur alte Menschen wie mich und meine Frau antreffen. Die Pensionisten kehren zurück, aber auch nicht mehr alle.

ORF.at: Glauben Sie denn, dass die jüngeren Generationen in der Pension ebenfalls zurückkehren werden?

Rankovic: Eine gute Frage. Mein Nachbar Zika Marijanovic, er ist inzwischen verstorben, sagte vor langer Zeit zu mir: „Mihajlo, ich bin alt, aber du wirst meine Prophezeiung erleben: Wir bauen hier riesige Häuser, Stallungen, Lokale – aber uns erwarten schlechte Zeiten! Mein Sohn wird vielleicht zurückkehren, wenn er seine Pension erlebt, aber sein Sohn wird vielleicht alle fünf Jahre nach Serbien kommen, und sein Sohn wiederum wird sich nur daran erinnern, dass er ursprünglich aus Serbien kommt – besuchen wird er sein Land niemals.“

Ich und meine Generation haben hier Häuser gebaut und investiert, damit es die folgenden Generationen leichter haben werden, niemand von uns hat damit gerechnet, dass diese Häuser eines Tages leer stehen werden.