Russische Soldaten mit einer Iskander-Rakete
Reuters/Sergei Karpukhin
INF-Pakt vor dem Aus

Europa droht atomare Nachrüstung

Der INF-Vertrag, einer der maßgeblichen Abrüstungsverträge aus der Zeit des Kalten Krieges, steht vor dem Aus. Die USA haben Russland bis Februar Zeit gegeben, um die Vernichtung von Marschflugkörpern des Typs SSC-8 zuzusagen. Andernfalls will Washington den Vertrag aufkündigen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht nun eine Diskussion über eine atomare Nachrüstung auf Europa zukommen.

Im Vertrag über Atomwaffen mittlerer Reichweite (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) hatten sich die USA und die damalige Sowjetunion 1987 auf ein Verbot von Waffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern geeinigt. Zugleich wurden Produktion und Tests dieser Systeme untersagt. Es war die erste große Abrüstungsvereinbarung im Zeichen des von Kreml-Führer Michail Gorbatschow eingeleiteten Tauwetters, und sie eliminierte auf einen Schlag eine ganze Klasse von Atomwaffen.

Bereits im Oktober hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, aus dem INF-Vertrag auszusteigen. Hintergrund sind neue russische Marschflugkörper mit dem Namen Novator 9M729 (NATO-Code: SSC-8), die nach Einschätzungen des Weißen Haus gegen das Abkommen verstoßen. Vor exakt einem Monat hatten die USA Russland dann ein Ultimatum von 60 Tagen gesetzt, um deren Zerstörung zuzusagen. Wenn Russland den Vertrag verletzte, habe es für die USA keinen Sinn mehr, daran festzuhalten, ließ Außenminister Mike Pompeo wissen.

Jens Stoltenberg
AP/Francisco Seco
Stoltenberg sieht „viele verschiedene Wege, wie die NATO reagieren könnte“

Sollte Russland an den Marschflugkörpern festhalten, bleibe dem Verteidigungsbündnis „nichts anderes übrig, als zu reagieren“, sagte NATO-Chef Stoltenberg am Freitag der dpa. „Wichtig ist, dass Russland eine letzte Chance hat. Wir haben Russland beim Außenministertreffen im Dezember dazu aufgerufen, sie zu nutzen. Gleichzeitig haben wir gesagt, dass wir uns im Fall der Fälle auf eine Welt ohne Vertrag vorbereiten müssen. Wenn Russland nicht wieder vertragstreu wird, dann haben wir ein großes Problem“, sagte Stoltenberg.

„Erhebliche russische Aufrüstung"

Die SSC-8 sei mobil einsetzbar, ließe sich mit atomaren Sprengköpfen bestücken und könne europäische Städte erreichen. Außerdem seien die Marschflugkörper „nur ein Element der erheblichen russischen Aufrüstung in den vergangenen Jahren“. Die NATO habe „bereits begonnen zu reagieren – mit der Stationierung von rund 4.000 Soldaten im östlichen Bündnisgebiet, mit der Modernisierung und Stärkung der Kommandostrukturen, mit Investitionen in neue Fähigkeiten und mit einer Erhöhung der Einsatzbereitschaft von Truppen“.

Zudem seien alle NATO-Staaten einig, „dass wir mehr ausgeben sollten, weil neue Gefahren unsere Sicherheit bedrohen“. Zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) sollen es künftig sein – „das sei mehr, als wir heute ausgeben, aber zwei Prozent sind nicht besonders viel im Vergleich zu dem, was wir während des Kalten Krieges in Europa ausgegeben haben. Da waren wir bei rund drei Prozent des BIP“, sagte Stoltenberg.

Vladimir Putin
AP/Alexander Zemlianichenko
Putin beschuldigte Washington, nur einen Vorwand zu suchen, um sich selbst aus dem Abkommen zurückzuziehen

Russisches Einlenken denkbar unwahrscheinlich

Für ein Einlenken Russlands innerhalb des US-Ultimatums gibt es bisher jedenfalls keine Anzeichen. Präsident Wladimir Putin wies die Vorwürfe der Vertragsverletzung wiederholt zurück und unterstellte Washington, die Vorwürfe nur als Vorwand für ein eigenes Rüstungsprogramm zu nutzen. Er spielte damit darauf an, dass US-Militärs sich bereits seit Längerem darüber beklagten, dass der INF-Vertrag nur Amerikaner und Russen, aber nicht aufstrebende Militärmächte wie China bindet.

In Russland gibt es kaum offizielle Informationen über die Entwicklung oder technische Daten der Novator 9M729. In den USA hat Daniel Coats, Chef aller US-Geheimdienste, Ende November 2018 erstmals Details publik gemacht, berichtete damals die Deutsche Welle. Demnach soll Russland Mitte der 2000er Jahre mit der Entwicklung der landgestützten Mittelstreckenrakete begonnen haben. Als mögliche Basis für die Neuentwicklung wird die taktische Boden-Boden-Rakete vom Typ „Iskander“ gehandelt, die mit verschiedenen konventionellen und atomaren Gefechtsköpfen bestückt werden kann.

Breiter Widerstand aus Deutschland

Für Europa ist die Entwicklung brisant – die USA könnten nach einer Aussetzung des Pakts sofort wieder Mittelstreckensysteme testen und stationieren – auch in Europa. Nach Auffassung von Militärs ließen sich nämlich nur so langfristig ein strategisches Gleichgewicht und Abschreckung sichern. Speziell in Deutschland werden solche Szenarien sehr kritisch gesehen. „Nukleare Aufrüstung ist ganz sicher die falsche Antwort“, sagte unlängst Außenminister Heiko Maas. Die Nachrüstungslogik stamme aus dem Kalten Krieg und helfe nicht, die Fragen von heute zu beantworten. „Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen würde in Deutschland auf breiten Widerstand stoßen“, sagte er.