Ausschreitungen bei Protest der Gelbwesten
Reuters/Stephane Mahe
„Serotonin“

Houellebecq schickt Frankreich in die Hölle

Hat er den IS-Terror „vorhergesagt“? Und nun auch den „Gelbwesten“-Protest? Der neue Roman von Michel Houellebecq schlägt auch dank geschickter Verlagsstrategie seit den Weihnachtstagen hohe Wellen. Nun liegt er auf Deutsch vor. Es ist eine konsequente und lakonische Gesellschaftstheorie geworden über das Zerbrechen eines Landes vom Rand her.

Wahrer Nihilismus zielt auf alles. Und damit auf sich selbst. Schonungslos und lakonisch hat Houellebecq seinen neuen Roman „Serotonin“ als Abgesang auf das Funktionieren einer Warenwelt und den Hang des Menschen, sich darin genial selbst zu betrügen, angelegt. Eine Art „Passagenwerk“ in der Ich-Form, die beim Autor immer auch ein endloser Monolog über das Funktionieren und Nicht-mehr-Funktionieren des eigenen Penis sein muss. Das titelgebende gesteigerte Serotonin, es ermöglicht zwar das Überleben, löscht allerdings jede Libido aus und führt so zum Erlahmen des Houellebecq’schen Zentralinstruments.

Nichts ist gerade in Zeiten „sozialer“ Netzwerke so stark wie ein Buch aus einer radikal subjektiven Perspekive. Und anders als bei seiner zuletzt erschienenen Islamismus-Dystopie „Unterwerfung“ nimmt Houellebecq das Erodieren seines Landes von den Rändern her in den Blick, konstruiert mit dem Agronomen Florent-Claude, der beschließt, sich der Gesellschaft und dem Leben zu entziehen, als Hauptfigur ein Alter Ego, das wie immer alle Grenzen zwischen Fiktion, Illusion und biografischer Autorenrealität niederreißt. Eine Petitesse in diesem Zusammenhang, dass Houellebecq, der im September des Vorjahres seine japanischstämmige Freundin Lysis heiratete, im Roman eine Freundin für den Agronomen einführt, die auf den Namen Yuzu hört und die ihn in den Nächten in Gangbangs betrügt.

„Eine von Kleinbürgern verseuchte Stadt“

Das Niederreißen der Genregrenzen und das Ausbrechen aus der Ich-Erzählperspektive zu einer Person, die sich schrittweise von allen Formen des Begehrens löst, ist nötig, um den Beobachtungen den ätzenden Spin zu geben, der ja das Markenzeichen Houellebecqs geworden ist. Der Sozialaufsteiger hasst alles, was ihm gerade in seinem Pariser Leben im Zentrum und auch am Rand der Stadt begegnet. Paris, dieses durch Haussmann Gestalt gewordene Netz gesellschaftlicher Rationalisierung, ist bei Houellebecq eine von „umweltbewussten Kleinbürgern verseuchte Stadt“, in der er sich seine „eigene Hölle“ anrichten will.

Michel Houellebecq
APA/AFP/Eduardo Munoz Alvarez
Michel Houellebecq im März 2017: Mittlerweile steht der Autor etwas mehr auf den Verwahrlostlook

Aus dieser Perspektive sieht er schonungslos seiner eigenen Zerstörung, vor allem aber der eines ganzen Landes zu, die hinter den großen Schlagwörtern gesellschaftlicher Optimierung und Vertiefung internationaler Handelsbeziehungen passiert. Der sozial aufgestiegene Agronom ist ein Meister nüchterner Zahlen, sieht sich in seiner Berufskarriere aber bürokratischen Spielen ausgeliefert, deren Regeln sich niemandem erschließen: „Ob nun über Aprikosen, Spitzenkonfekt aus der Provence, Mobiltelefone oder Ariane-Raketen verhandelt wird, die Verhandlung ist ein eigenständiges Universum, das seinen eigenen Gesetzen gehorcht, ein allen Nicht-Verhandlern auf ewig unzugängliches Universum.“

„Komplett bescheuerte Texte“

In dieser Welt wären zwischenmenschliche Beziehungen nicht möglich. Der Ich-Erzähler entwickelt wie in früheren Romanen die Utopie einer zwischenmenschlichen Reinform, die aber an den Kompromissen mit der Außenwelt scheitert. Er sucht von Mal zu Mal neue Jobs, die ihn eigentlich unterfordern, zugleich aber, als er etwa für Monsanto arbeitet, mit Umweltschützern konfrontieren, die aus „Blödheit“ immer die falschen Fragen stellten. Seine Geliebte, eine Schauspielerin, träumt vom Aufstieg ins Unterhaltungsfach, bleibt aber darin gefangen, „komplett bescheuerte Texte“ von Bataille, Leiris und Blanchot für die Bühne oder „France Culture“ zu deklamieren. „Wir hätten die Welt retten können, und wir hätten sie in einem Augenblick retten können, aber wir haben es nicht getan, das heißt, ich habe es nicht getan und die Liebe hat nicht obsiegt“, heißt es an einer Stelle des Romans.

Die Befunde zur menschlichen und gesellschaftlichen Gegenwart, sie entspringen eigentlich dem französischen Materialismus, wie man ihn schon seit dem 18. Jahrhundert zwischen den Enzyklopädisten und einem Donatien Alphonse Francois de Sade kennt. Wenig Wunder, dass Houellebecq die Perspektive De Sades mehr reizt, weil sie die Dimension des unter die Räder gekommenen Individuums am radikalsten auskostet.

„Die idelologischen Wurzeln der Humanität“

Michel Houellebecq 2005 in einem mittlerweile legendären Interview mit Laure Adler auf Arte zur Frage, ob er mit seiner Literatur provozieren wolle? Nein, ihn interessierten die ideologischen Wurzeln der Humanität.

„Pascal & Blaise“

Als Romancier ist Houellebecq Soziologe und Moralist im Ursinn des französischen Begriffs. Von der konkreten Anschauung wird abstrahiert – gleichzeitig speist sich die Abstraktion der Beobachtung immer vom Ekel und dem Befremden über soziale Vorgänge. Wenn vom Luxuslabel Zadig & Voltaire die Rede ist, hält er nicht von ungefähr spitz den besseren Namen „Pascal & Blaise“ parat.

Konsequent hat Houellebecq jedenfalls die jüngeren Publikationen zum gesellschaftlichen Zustand des Landes verfolgt, darunter auch Luc Boltanskis und Arnaud Esquerres „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“. Im Anschluss an die Forschungen von Laurent Davezies („La Republique et ses territoires“) und die „unsichtbare Verteilung des Reichtums“ blickt Houellebecq auf die Umgestaltung der Ränder eines Landes, dorthin, wo sich die „produktive“ Grundlage der Gesellschaft in eine „residentielle“ entwickelt hat.

„Serotonin“-Buchcover
DuMont

Michel Houellebecq: Serotonin. Aus dem Franzöischen von Stephan Kleiner. DuMont, 336 Seiten, 24,00 Euro.

Buchcover „Bereicherung – Eine Kritik der Ware“
Suhrkamp

Luc Boltanski, Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp, 730 Seiten, 49,40 Euro.

Die Nachlassverwalter

Nach dieser Theorie sind jene Regionen am Rand noch vergleichsweise wohlhabend, die sich in Kondominien für eine älter werdende Gesellschaft entwickelt hätten. Bei Houellebecq ist das postfrankistische Spanien ein Beispiel für eine residentielle Gesellschaft: „Nach dem Tod General Francos sah sich Spanien mit zwei gegenläufigen Strömungen konfrontiert. Die erste, eine unmittelbare Folge der 1960er Jahre, legte Wert auf freie Liebe, Nacktheit, die Emanzipation der Arbeiterklasse. Die zweite, die sich im Lauf der 1980er Jahre endgültig durchsetzte, honorierte dagegen Wettbewerb, Zynismus, Pornografie und Aktienoption, gut, ich vereinfache, aber ohne Vereinfachung kommt man nicht weiter.“

In Frankreich nimmt er schließlich als Auftragsagronom mit der Normandie eine Region in den Blick, die als Produktivuniversum nicht mehr den Anschluss an den internationalen Handelskapitalismus schafft. Aymeric d’Harcourt-Olande, ein Freund aus ehemaligen Studientagen mit schon lautlich anspielungsreichem Nachnamen, wird selbst als Teil der eingesessenen Land-Gentry im Stile Flauberts keine Chance mehr auf Anschluss an die internationalen und nationalen ökologischen Vorgaben finden. Die Aufstände, die Houellebecq beschreibt, sie sind die Aufstände der Bauern in den Regionen, die man in Paris mittlerweile schon wieder vergessen hat. Wenn man jetzt den „Gelbwesten“-Protest bei Houellebecq als vorweggenommen sieht, dann sind Formen des Protests in den Regionen offenkundig sehr rasch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden.

Möglichst viele Spitzen

Zweifelsohne ist die Art, wie der Erzähler in diesem Roman „vereinfacht“, äußerst subjektiv und so zugespitzt, um sich mit möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen anzulegen. Nicht zuletzt deshalb wird Houellebecqs Roman quer durch alle gesellschaftlichen Schichten gelesen, zerlegt, für extrem gut oder eben extrem schlecht befunden – als ob es hier noch auf ein ästhetisches Urteil ankäme.

Houellebecq zelebriert eine klare Feindseligkeit gegenüber einem humanistischen und ökologischen Kurs. Er tut das für einen Nihilismus, der am Ende jeden Charakter und zuvörderst den Ich-Erzähler zersetzt. Man mag das nicht sympathisch finden. Und ein Buch der Empathie sollte es wohl nicht werden. Eher eine Zustandsbeschreibung einer Welt, der hinter ihren Genussformeln das Potenzial zum Träumen abhandengekommen ist: „Nebenbei bemerkt, wären alle diese Restaurants erträglich gewesen, hätten die Kellner nicht in jüngster Zeit diese Marotte entwickelt, die Zusammensetzung noch des kleinsten Amuse-Bouche in einem geschwollenen, mit halb gastronomischem, halb literarischem Pathos aufgeladenen Tonfall vorzutragen, während sie bei den Gästen nach Anzeichen der Komplizenschaft suchten.“