Die britische Premierministerin Theresa May im House of Commons
APA/AFP/Parliamentary Recording Unit
Bei „hartem“ Brexit

May sieht Bedrohung für britische Einheit

Am Montagabend hat Großbritanniens Premierministerin Theresa May vor dem britischen Unterhaus noch einmal Stimmung für das ausgehandelte Brexit-Abkommen gemacht. Sie forderte alle Abgeordneten auf, vor der Abstimmung am Dienstag einen „zweiten Blick“ auf den Deal zu werfen. Ein „harter“ Brexit könnte die britische Einheit gefährden.

„Nein, er ist nicht perfekt. Und ja, es ist ein Kompromiss“, sagte May über das Abkommen. Doch wenn die „Geschichtsbücher geschrieben sind“, sei für die Menschen entscheidend, ob „wir den Erwartungen der Menschen nach dem Referendum zum Ausstieg aus der EU nachgekommen sind“.

Ein „harter“ Brexit ohne Abkommen würde die Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit und eines Zusammenschlusses von Nordirland und Irland stärken, warnte May bei ihrer Ansprache. „Das ist mit Sicherheit die eigentliche Bedrohung für unsere Union“, so May.

Corbyn fordert Neuwahl

Zentraler Streitpunkt im britischen Parlament war erneut der „Backstop“, der eine Notfallregelung darstellt, sollte es nicht rechtzeitig zu einer Lösung der irischen Grenzfrage kommen. Vor den Abgeordneten gab May zu, dass die EU ein Zeitlimit für eine solche Regelung abgelehnt habe. Aber wenn man sich jetzt auf das Abkommen einige, habe man fast zwei Jahre Zeit, um ein endgültiges Handelsabkommen abzuschließen.

Entscheidende Brexit-Abstimmung steht bevor

Das britische Parlament stimmt am Dienstag über den Austrittsvertrag ab, den Premierministerin May mit der EU-Spitze ausgehandelt hat. May warnte ausdrücklich vor einem Nein.

Labour-Chef Jeremy Corbyn zeigte sich von Mays Appell wenig beeindruckt. Er forderte sie auf, den Abgeordneten entgegenzukommen. Ein Deal, der die Unterstützung im Unterhaus bekomme, sei möglich, so Corbyn: Dazu müsste Großbritannien in der Zollunion bleiben und EU-Standards einhalten. Sollte der Deal am Dienstag abgelehnt werden, sei es Zeit für eine Neuwahl und eine neue Regierung, wiederholte Corbyn eine seiner früheren Forderungen.

May: „Lähmung“, die Brexit verhindern könnte

May warnte bereits am Vormittag vor einem Nein der britischen Abgeordneten. Eine Ablehnung könnte zu einer „Lähmung“ des Parlaments führen, das „riskieren“ würde, dass es zu „keinem Brexit“ kommt, sagte sie in einer Rede. May besuchte am Montagvormittag Stoke-on-Trent, eine Stadt, die mehrheitlich für den Brexit stimmte. Auf die Frage, ob sie selbst an ein positives Abstimmungsergebnis glaube, sagte May, dass sie daran arbeite „sicherzustellen, dass es dazu kommt“ – sie sagte jedoch nicht, wie wahrscheinlich das sei.

Einer Verschiebung des Austritts und einem zweiten Referendum erteilte sie erneut eine Abfuhr. Gefragt, ob sie eine Verlängerung der Übergangsphase ausschließe, legte sie sich in ihrer Antwort jedoch nicht eindeutig fest: „Ich glaube nicht, dass wir Artikel 50 verlängern sollten, und ich glaube nicht, dass wir ein weiteres Referendum haben sollten“, so May. Auch im Parlament sagte May, dass es die Absicht der Regierung sei, am 29. März die EU zu verlassen, kategorisch schloss sie eine Verlängerung aber nicht aus, wie der „Guardian“ schreibt.

Minister warnt vor „sehr realer Gefahr“

Auch Brexit-Minister Kwasi Kwarteng warnte vor der Gefahr, dass es zu gar keinem Brexit kommen könnte. Gegenüber der BBC sagte er: „Ich denke, es besteht die sehr reale Gefahr, dass wir, wenn der Deal abgelehnt wird, in eine Situation geraten, in der das Unterhaus versuchen wird, die Kontrolle zu übernehmen und den Brexit zu verhindern.“ Er denke, das sei eine „sehr reale und gegenwärtige Gefahr“.

EU veröffentlicht Brief zu „Backstop“

Hintergrund der „Backstop“-Debatte ist ein zu Mittag veröffentlichter Brief der EU zu dem Thema. Darin wird unter anderem betont, dass man sich bemühen werde, bis 2020 ein Handelsabkommen zu erreichen, um den „Backstop“ nicht aktivieren zu müssen. Sollte das doch notwendig werden, solle die Regelung nur befristet in Kraft bleiben.

May bewertete den Brief der EU als wertvolle Zusicherung der Union zum Brexit-Abkommen. Er gehe zwar nicht so weit, wie manche Abgeordnete erwartet hätten. Der Brief habe aber Rechtskraft. Einige Abgeordnete würden nach anfänglichem Zweifel die Übereinkunft mit der EU mittlerweile unterstützen, so May am Vormittag. In einem Schreiben an Brüssel versicherte May, dass sich britische und EU-Politiker keine Sorgen wegen des „Backstops“ machen müssten.

Der Brief der EU macht aber auch deutlich, dass es keine Neuverhandlung des „Backstops“ geben wird. Die nordirische DUP sagte, dass das Schreiben der EU nicht ausreiche. Das ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil die DUP mit ihren zehn Abgeordneten die Tory-Minderheitsregierung Mays unterstützt. Am Nachmittag sagte der Vizechef der Partei, Nigel Dodds, dass er May jedoch auch bei einer Niederlage unterstützen werde: Ein von der Opposition ins Auge gefasstes Misstrauensvotum würde von der DUP nicht mitgetragen.

Konservativer Abgeordneter geht

Am Tag vor der Abstimmung musste May noch einen personellen Rückschlag hinnehmen. Gareth Johnson, Abgeordneter und Whip – eine Funktion, die sicherstellen soll, dass die Parteilinie eingehalten wird –, gab seinen Rücktritt bekannt. In seinem Rücktrittsgesuch schrieb er, dass das Abkommen „verhindern“ würde, „die Kontrolle zurückzuerlangen“. Stattdessen könnte es dazu führen, dass Großbritannien „von der EU eingeschränkt“ werde.

Damit könnte die Rücktrittswelle – laut BBC ist der Abgang Johnsons bereits der 13. bei den Torys – aber noch nicht zu Ende sein. Paul Brand vom britischen Fernsehsender ITV schrieb auf Twitter, dass er „vernommen“ habe, dass es noch „fünf weitere mögliche Rücktritte“ bis Dienstag geben könnte.

Minister: „No-Deal kein nationaler Selbstmord“

Die Abstimmung über die Brexit-Vereinbarung zwischen London und den 27 anderen Mitgliedsstaaten ist am Dienstag geplant. Vieles deutet nach Auffassung von Beobachterinnen und Beobachtern auf eine Niederlage für May hin. Die Folge könnte ein ungeregelter Brexit zum Austrittsdatum am 29. März ohne Übergangsregeln sein, der zu Chaos führen könnte.

Aktivisten in London
AP/Frank Augstein
In London demonstrierten am Montag Aktivistinnen und Aktivisten für eine verbindliche Abstimmung über den EU-Ausstieg

Im Gegensatz zu May geht Handelsminister Liam Fox davon aus, dass Großbritannien bei einer Ablehnung des Deals die EU ohne Abkommen verlassen werde. Die britische Regierung wolle zwar einen Deal, bereite sich aber auch auf den gegenteiligen Fall vor, sagte Fox der BBC. „Ich betrachte einen No-Deal nicht als nationalen Selbstmord.“

Der britische Brexit-Minister Stephen Barclay will hingegen seinen Posten auch behalten, wenn Großbritannien die EU ohne Ausstiegsvertrag verlassen sollte. In diesem Fall wäre er für das Management der damit verbundenen Risiken zuständig, sagte Barclay am Montag der BBC. Ein solches Szenario sei aber nicht wünschenswert.

Brüssel schließt Verschiebung nicht aus

Die EU hält angesichts der Situation eine Verschiebung des Brexits für möglich. Das sagten Diplomaten der dpa am Montag in Brüssel. Der „Guardian“ hatte zuvor berichtet, in Brüssel werde mit einem britischen Antrag auf Verlängerung der Austrittsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge in den kommenden Wochen gerechnet.

Eine „technische“ Verlängerung bis Juli wäre ein erster Schritt, um May Extrazeit zu geben, das jetzige Abkommen zu überarbeiten und bestätigen zu lassen. Noch sei kein Antrag aus London auf eine Fristverlängerung gestellt worden, hieß es aus EU-Kreisen. Zudem müssten die EU-Mitgliedsstaaten eine solche Verlängerung einstimmig beschließen.