Britische Premierministerin Theresa May im Parlament
AP/House of Commons/Jessica Taylor
Brexit-Niederlage

Kaum Zeit für Mays Plan B

Das Brexit-Abkommen ist am Dienstagabend im britischen Unterhaus klar gescheitert – eine herbe Niederlage für Premierministerin Theresa May. Rund zehn Wochen vor dem geplanten Austrittsdatum stehen sie und die EU vor einem Scherbenhaufen. Wie nun auf die Schnelle einen Plan B schmieden? Viel Zeit bleibt nicht – und davor gibt es noch eine Hürde.

Denn am Mittwochabend muss May ein Misstrauensvotum überstehen – den Antrag hatte Oppositionschef Jeremy Corbyn unmittelbar nach der Abstimmung eingebracht. Am Mittwoch blieb May ihrer Linie treu: Großbritannien werde aus der EU am 29. März austreten. Eine Verlängerung der Verhandlungen über dieses Datum hinaus würde nur dann infrage kommen, wenn es einen glaubwürdigen alternativen Ausstiegsplan gäbe.

Es sei Aufgabe der Regierung, „den Brexit zu liefern“, sagte May anlässlich der wöchentlichen Fragestunde im Unterhaus am Mittwoch. Die Abgeordneten hatten den Deal am Vortag überraschend deutlich mit 432 zu 202 Stimmen durchfallen lassen. „Es ist eindeutig, dass das Haus diesen Deal nicht unterstützt“, sagte May im Anschluss an die Verkündung des verheerenden Ergebnisses.

Sturz Mays scheint sehr unrealistisch

Chancen, die Regierung mit dem Misstrauensvotum zu stürzen, werden dem Vorstoß der Opposition nicht eingeräumt. Dazu brauchte Labour-Führer Corbyn die Unterstützung von Rebellen aus dem Regierungslager oder der nordirischen DUP, von deren Stimmen die konservative Minderheitsregierung abhängig ist.

Grafik zeigt Daten zur Brexit-Abstimmung
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Guardian

Corbyn forderte am Nachmittag May erneut zum Rücktritt auf. Die „Zombie“-Regierung der konservativen Premierministerin habe „das Vertrauen und die Unterstützung“ des Parlaments verloren, so der Labour-Chef im Unterhaus. May solle daher ihr Amt niederlegen.

Plan B nach dem Wochenende

Doch selbst wenn May das Vertrauensvotum verliert, bedeutet das nicht automatisch eine Neuwahl. Das Unterhaus kann laut der Politologin Melanie Sully binnen zwei Wochen jemand anderem das Vertrauen aussprechen. Das könnte auch ein konservativer Abgeordneter sein, so Sully gegenüber ORF.at. Sollte May die Misstrauensabstimmung wie erwartet überstehen, wolle sie sich mit Vertretern aller Parteien treffen, um einen Ausweg zu suchen.

Bereits am Montag soll dem Parlament ein Plan B vorgelegt werden, wie es konkret weitergehen soll. Nach der Abstimmung sagte May, das Ergebnis sage nur aus, was das Abgeordnetenhaus nicht unterstütze, nicht aber, was es unterstütze. Sie wolle auch mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Parteien über eine „neue Vorgehensweise“ sprechen, ohne darauf einzugehen, wie diese aussehen könnte.

Wie es nach dem Nein zum Brexit-Plan weitergeht

Die ORF-Korrespondenten Andreas Pfeifer und Peter Fritz berichten aus London und Straßburg über die Abstimmung zum Brexit-Abkommen und die Auswirkungen auf den EU-Austritt Großbritanniens.

Der ehemalige Brexit-Staatssekretär Steve Baker sagte der BBC am Mittwoch, man müsse nach der Niederlage einen neuen Plan für den Brexit finden. Der abgelehnte Plan könne nicht noch einmal aufgelegt werden – May solle nun auf ein Freihandelsabkommen mit der EU pochen, Großbritannien solle aber auch darauf vorbereitet sein, die EU ohne Deal zu verlassen.

71 Labour-Abgeordnete für zweites Referendum

Unterdessen werden die Rufe nach einem zweiten Referendum über einen EU-Austritt lauter. 71 Abgeordnete der oppositionellen Labour-Partei unterzeichneten am Mittwoch einen Brief, in dem sie eine weitere Volksabstimmung forderten mit der Option, die Brexit-Entscheidung rückgängig zu machen. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der linken Schottischen Nationalpartei sagte, ein zweites Referendum sei „sie einzige glaubwürdige Option“.

Britischer Botschafter in Wien: Alternative finden

Der britische Botschafter in Österreich, Leigh Turner, zeigte sich relativ zuversichtlich, dass es May gelingen kann, noch eine Lösung zu finden. „Es muss eine Alternative gefunden werden, die Unterstützung genießt“, sagte Turner im Ö1-Morgenjournal am Mittwoch. Dazu müsse „innerhalb des britischen Systems weiterhin diskutiert werden und auch mit den europäischen Partnern“ – Audio dazu in oe1.ORF.at.

Klar sei, dass weiter eine gute Lösung für beide Seiten gesucht werden müsse, so Turner. Auch Nachverhandlungen mit Brüssel, welche die EU-Kommission bisher kategorisch ausgeschlossen hat, hält er für möglich: „Das werden wir noch sehen. Es ist öfter der Fall gewesen, dass alle gesagt haben, so geht es nicht weiter, und es geht trotzdem weiter.“

Es sei wichtig, zu einer Lösung zu kommen, die so tiefe und breite Beziehungen wie möglich zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU-27 sicherstelle, sagte der Botschafter. „Wir konzentrieren uns im Moment auf die Rechte der (britischen) Bürger und Bürgerinnen hier in Österreich sowie natürlich auf die der Österreicher in Großbritannien.“

Viele Szenarien von Abgeordneten gefordert

Die Vorstellungen gehen weit auseinander – Abgeordnete fordern ein weiteres Referendum, eine Nachverhandlung des Abkommens, einen „harten“ Brexit ohne Abkommen oder gar einen Stopp des EU-Ausstiegs, wie etwa die BBC schreibt. Obwohl Großbritannien nach derzeitigem Stand noch immer am 29. März aus der EU austritt, ist die Frage nach der Art und ob der Zeitpunkt eingehalten werden kann, damit komplett ungeklärt. „Das Haus hat gesprochen, und die Regierung wird zuhören“, versprach May jedenfalls.

Insider: Brexit-Aufschub und zweites Referendum

Am späten Abend wurde bekannt, dass britische Abgeordnete offenbar auf einen Aufschub des Ausstiegs aus der EU hinarbeiten. Einem Insider zufolge erarbeiten Abgeordnete einen Antrag, um das Brexit-Verfahren nach EU-Artikel 50 zu verlängern. Regierungsminister hätten solche Planspiele für einen Brexit-Aufschub gegenüber Spitzenvertretern der Wirtschaft geäußert, sagte eine an den Gesprächen beteiligte Person.

Der Nachrichtensender Sky berichtete unterdessen, dass sich schon am Mittwoch „bis zu hundert Labour-Abgeordnete“ offiziell für ein Referendum aussprechen werden. Der Druck auf Labour-Chef Corbyn, der bisher ein zweites Referendum ablehnte, dürfte diesbezüglich noch zunehmen, wenn das von ihm eingebrachte Misstrauensvotum gegen May erfolglos bleiben sollte. Auch aus den Reihen der Konservativen gab es Stimmen für ein Referendum. Die Bürger sollten eine Chance bekommen, über den Deal, aber auch einen Verbleib in der EU abzustimmen, sagte der Tory-Mandatar Dominic Grieve.

Irland verstärkt Vorbereitung auf „harten“ Brexit

Die irische Regierung will sich unterdessen intensiv auf einen Brexit ohne Abkommen vorbereiten. „Bedauerlicherweise hat der Ausgang der Abstimmung heute Abend das Risiko eines ungeordneten Brexits erhöht. Folglich wird die Regierung ihre Vorbereitungen auf ein solches Ergebnis weiter intensivieren“, hieß es in einer Erklärung.

TV-Hinweise

ORF2 zeigt am Mittwoch um 22.25 Uhr einen runden Tisch zum Thema „Briten in der Sackgasse – Europa, was nun?“, um 22.55 Uhr ein „Weltjournal“ („Brexit – wie konnte es so weit kommen?“) und um 23.30 Uhr ein „Weltjournal+“ („24 Stunden – Großbritannien von oben“).

Im Falle eines harten Brexits droht die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland. Irland will eine „harte Grenze“ verhindern, auch um das Karfreitagsabkommen von 1998 zu schützen. Das Abkommen hatte den jahrzehntelangen Konflikt zwischen irisch-katholischen Nationalisten und protestantischen Loyalisten beendet. Wesentlicher Bestandteil ist eine Grenze ohne Kontrollen zu Irland. Der „Backstop“, eine Notlösung, die sicherstellt, dass die Grenzen auch ohne Handelsabkommen offen bleiben, war zentraler Streitpunkt des von May ausgehandelten Abkommens.

Britische Presse: „Umfassende Demütigung“

Vernichtend fiel jedenfalls das Presseecho auf Mays historische Niederlage aus: „Eine umfassende Demütigung“, titelte am Mittwoch der „Daily Telegraph“, der wie praktisch alle Zeitungen darauf hinwies, dass noch kein britischer Premierminister eine größere Niederlage einstecken musste.

Der „Guardian“ nahm auf die angeschlagene Gefühlslage der Briten Bezug: „Eine fehlende Führung kann zu einem Gefühl der Panik führen, das von einer Regierung noch verstärkt wird, die Lebensmittel- und Medikamentenvorräte anlegt, als bereite sie sich auf einen Krieg vor. Wir müssen dem Chaos und der Spaltung ein Ende setzen, die so viel dazu beigetragen haben, unser Land zu entstellen.“

„Zerschmettert“

Die führende Boulevardzeitung „The Sun“ porträtierte May als ausgestorbenen Vogel „Dodo“ („Mays Brexit-Deal ist tot wie ein Dodo“) und schrieb in großen Lettern: „Brextinct“ (frei übersetzt: „brexgegangen“). „Kein Deal, keine Hoffnung, keine Ahnung, kein Vertrauen“, titelte der „Daily Mirror“ mit Blick auf das Misstrauensvotum gegen May. „Sie kämpft um ihr Leben“, ist auf der Titelseite der „Daily Mail“ zu lesen, während die U-Bahn-Zeitung „Metro“ von der „größten Niederlage aller Zeiten“ sprach. Mit einem Wort begnügte sich der „Scotsman“: „Zerschmettert“.