Jeremy Corbyn
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas
Brexit-Poker

Auch Labour-Chef Corbyn auf Schlingerkurs

Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn will Premierministerin Theresa May stürzen und strebt baldige Neuwahlen an. Doch auch in seiner Partei ist von Harmonie keine Spur: Er selbst möchte am Brexit festhalten, die Mehrheit drängt auf eine neue Volksabstimmung über den EU-Austritt. Sein Misstrauensvotum gegen May scheiterte am Mittwoch.

Der „Tory-Brexit“, wie ihn Corbyn nennt, ist am Dienstag fulminant gescheitert. Der Labour-Chef selbst brachte mit Unterstützung anderer kleinerer Parteien noch am selben Tag ein Misstrauensvotum gegen May ein: „Dieses Haus hat kein Vertrauen in die Regierung Ihrer Majestät.“ Trotz tiefer Spaltung der Torys in der Brexit-Frage überstand May das Votum am Mittwochabend – Neuwahlen sind in dem derzeitigen Chaos in der britischen Politik trotzdem nicht ausgeschlossen.

Welchen Ausgang diese nehmen würden, beziehungsweise ob Labour zu Recht darauf hofft, steht in den Sternen. Ebenso könnte es für Corbyn eine Abfuhr geben – seine Rolle bei dem Brexit-Gezerre war wenig überzeugend. Nur auf Drängen der EU-freundlichen Parteibasis sprach er sich 2016 für den Verbleib bei der Union aus, engagierte sich im Referendumskampf aber kaum. Mit gutem Grund: Corbyn ist seit jeher europaskeptisch und betrachtet die Europäische Union als eine Vereinigung des Kapitals und der Großkonzerne.

Premierministerin Theresa May lacht während der Rede von Jeremy Corbyn
APA/AFP
Corbyn brachte Premierministerin May im Parlament zum Lachen – ob freiwillig oder nicht

„Love Corbyn – hate Brexit“

Ganz anders sehen das einer Umfrage der Londoner Queen-Mary-Universität zufolge die Labour-Parteimitglieder: 72 Prozent sprechen sich für ein zweites Referendum aus, um das Ergebnis des ersten zu kippen. Auch bei der Parteijugend und in den Reihen der linkssozialistischen Gefolgschaft Corbyns ist der Ruf nach einem neuen Referendum stark. Unter dem Motto „Love Corbyn – hate Brexit“ soll der Spagat geschafft werden.

Denn Corbyn selbst will zwar Neuwahlen, aber kein neues Referendum: „We can’t stop Brexit“ ist seine Überzeugung. Er will Labour-Wähler, die 2016 für den Austritt gestimmt haben, nicht vergrämen. Doch der Druck auf ihn wächst zusehends: 71 Abgeordnete von Labour unterzeichneten am Mittwoch einen Brief, in dem sie eine weitere Volksabstimmung forderten. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sagte, das sei „die einzige glaubwürdige Option“.

Strahlkraft des Altlinken

Nach der Wahl Corbyns zum Labour-Chef 2015 erlebte die Arbeiterpartei einen enormen Aufschwung: Die Umfragewerte stiegen, die Mitgliederzahl wuchs auf 540.000 Menschen an – damit ist Labour die größte politische Organisation Westeuropas. Sein dezidiert linker Kurs mobilisierte aber auch die alte Stammwählerschaft. Nach dem Brexit-Votum 2016 entzog ihm seine Fraktion wegen seiner unentschiedenen Haltung jedoch das Vertrauen, Corbyn verweigerte aber einen Rücktritt. Einen Schatten auf ihn werfen auch Ermittlungen von Scotland Yard wegen des Verdachts auf „antisemitische Hassverbrechen“ in seiner Partei. Corbyn räumte vergangenen Sommer ein, dass Labour ein „echtes Problem“ mit Antisemitismus habe.

Vor ein noch komplexeres Problem ist die Partei in puncto Brexit gestellt: Sie kann von der Uneinigkeit der Regierung angesichts eigener Schwächen nicht profitieren. Umfragen zeigen, dass Corbyn mit seiner Brexit-Befürwortung ein Wahldesaster bevorstehen würde, wie der „Guardian“ unlängst berichtete.

Ironischerweise wirkt Corbyn in seiner Rolle ähnlich verloren wie May, war dieser Tage in Analysen zu lesen – mit umgekehrten Vorzeichen. Auf der einen Seite steht die Premierministerin, die eigentlich in der EU bleiben wollte, aber von ihrer Partei zur Brexit-Befürwortung gezwungen wurde. Auf der anderen Seite findet sich Corbyn: Der Altlinke lehnt den Brexit per se nicht ab, führt aber eine überwiegend proeuropäische Partei mit vielen jungen Leuten.

„Mehr Unvernunft war selten“

Entsprechend hart wurde international auch mit der britischen Opposition ins Gericht gegangen: Es sei völlig unklar, was Labour wolle. Am drastischsten formulierte es der Vorsitzende der europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer. „Die politische Klasse Großbritanniens begeht gerade auf offener Bühne kollektiven Selbstmord, und die Bürgerinnen und Bürger werden die eingebrockte Suppe auslöffeln müssen“, sagte Bütikofer am Dienstag. „Mehr Unvernunft war selten.“