Der französische Autor Edouard Louis
APA/AFP/Daniel Roland
Literarische Anklage

Abrechnung mit Frankreichs Vatermördern

Nach Michel Houellebecqs „Serotonin“ erreicht mit Edouard Louis’ „Wer hat meinen Vater umgebracht“ ein weiteres Stück französischer Politrealität den hiesigen Literaturmarkt – diesmal ganz anders gelagert: Louis’ Text ist eine wütende Liebesbekundung an einen versehrten Arbeiterklasse-Vater und sorgte in Frankreich für heftige Debatten.

„Wer hat meinen Vater umgebracht“: Der Titel der deutschsprachigen Ausgabe ist eine Frage, das mehrdeutige französische Original – „Qui a tue mon pere“ – trifft es aber besser, da es auch als Aussage gelesen werden kann. Das dritte Werk des französischen Jungstars ist nämlich weder abwägend noch zweifelnd, was seine Diagnostik betrifft.

Es stellt keine Fragen, sondern enthält – in Du-Form an den Vater gerichtet – eine scharfe Anklage gegen diejenigen, die ihn angeblich malträtiert und die seinem Körper so zugesetzt haben, dass er mit 50 Jahren die Nächte nur mit einem Sauerstoffgerät überlebt.

„Macron stiehlt dir das Essen vom Teller“

Die Biografie des geschundenen Körpers ist eine politische Geschichte: „Wer hat meinen Vater umgebracht“ inszeniert den Verfall des väterlichen Körpers parallel zur Geschichte der französischen Sozialreformen. Chirac, Sarkozy, Hollande: Louis klagt sie hier als Mörder an. Als Männer, deren Maßnahmen für die unteren Schichten nicht nur „ein wenig Aufregung“ bedeuteten, sondern tatsächlich direkt gegen ihre Körper zielten. Wie, das treibt Louis in personifizierten Schuldzuweisungen auf die Spitze.

Der französische Autor Edouard Louis
APA/AFP/Daniel Roland
Louis gegen den Elyssee: „Mein Schreiben rebelliert gegen alles, was Sie sind und was Sie tun.“

„Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller“, schreibt er zu den Kürzungen der Wohnbeihilfe, „Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen“ über das veränderte Sozialhilfegesetz, das den Vater, einen früheren Fabriksarbeiter, dazu zwang, trotz chronischer Rückenschmerzen nach einem schweren Arbeitsunfall einen unterbezahlten Job als Straßenkehrer anzunehmen.

Ein Autor polarisiert Frankreich

Ein Buch also als wortgewaltige Anklageschrift gegenüber den Regierenden – womit noch nicht alles gesagt, aber zumindest der Teil genannt ist, der Frankreich so polarisierte: Während „Le Monde“ Edouard Louis großen Respekt zollte für seine „Kunst der Konfrontation“, attackierten ihn andere als schwülstigen, analytisch verwirrten und linksradikalen Ultra-Bourdieu-Anhänger.

„Wir lesen Edouard Louis“ twitterte übrigens auch der Elysee-Palast kurz nach der Veröffentlichung: Eine Vereinnahmung? Louis wollte das jedenfalls nicht unwidersprochen lassen und antwortete prompt: „Mein Schreiben rebelliert gegen alles, was Sie sind und was Sie tun“.

Eine einzigartige Karriere

Aber noch einmal von vorn: Dass dieses gerade einmal 80 Seiten schmale Bändchen in Frankreich derart für Aufruhr sorgen konnte, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Louis mit 26 Jahren schon eine Karriere hingelegt hat, die wohl einzigartig ist. Aufgewachsen ist er in der französischen Provinz Picardie als Sohn eines Fabriksarbeiters, inmitten von Armut, Gewalt und Homophobie. Mit dem Umzug nach Paris folgte ein Soziologiestudium, der Klassenaufstieg und im veränderten Milieu die „Scham“ über die eigene Herkunft.

Cover des Buches „Wer hat meinen Vater umgebracht“ von Edouard Louis
S. Fischer Verlag

Edouard Louis: „Wer hat meinen Vater umgebracht“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 80 Seiten, 16,50 Euro.

Der Begriff der Scham ist es auch, der schließlich eine Schlüsselfunktion in seinem autobiografisch geprägten Schreiben einnimmt: Mit 21 veröffentlichte Edouard Louis „Das Ende von Eddy“, mit 24 „Im Herzen der Gewalt“. Beide wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt, beide sind Bestseller und handeln davon, was es heißt, von ganz unten zu kommen, von den Erinnerungen an eine triste Jugend, dem Entdecken der Homosexualität unter schwierigen Bedingungen und von einem Thema, das wohl nur selten zur Literatur wurde: einer Vergewaltigung unter Männern.

„Literatur muss kämpfen“

Es sind also zwei drastische Bücher, die, wie es heißt, Kritik und Leserschaft in einen „Schock“ versetzten und zugleich begeisterten: Louis wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix Goncourt du premier roman, „Im Herzen der Gewalt“ wurde fürs Theater adaptiert, von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne aufgeführt. Der Schritt in die akademische Welt folgte: Als Jüngster überhaupt trat er im letzten Sommer die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin an, bei der er unter dem Titel „Geschichte der Literatur – Geschichte der Gewalt“ wieder konsequent seine Themen platzierte: „Literatur muss kämpfen – für all jene, die selbst nicht kämpfen können, die zum Stillschweigen verdammt sind“.

Kämpfen, das heißt für Edouard Louis – oft im Verbund mit seinem früheren Lehrer Didier Eribon – die Fürsprache für die Sache der Arbeiterklasse und der „missverstandenen“ „Gelbwesten“. Und nicht zuletzt will Louis mit „Wer hat meinen Vater umgebracht“ gegen das Vergessenwerden von Menschen revoltieren und die Unterrepräsentierten und Ungehörten mitten in die Wohnzimmer des Bürgertums holen, wo man allzu bequem auf die Faulen und Arbeitsunwilligen schimpft – ohne zu wissen, wie deren Realität wirklich ausschaut.

Die Läuterung eines homophoben Rassisten

Genau darin liegt auch die Stärke von „Wer hat meinen Vater umgebracht“. Denn neben der scharfen politischen Anklage überzeugt Louis in seinem Ringen um die Darstellung einer an den Rand gedrängten Biografie. Der Vater wird hier, in Szenen und Bildern, die Louis gekonnt verschachtelt und mit viel melodischem Gespür zu inszenieren weiß, zur ambivalenten Figur: ein Buch, das gewissermaßen das Bild des harten, rassistischen und homophoben Mannes korrigiert, das man aus dem Erstling kennt.

Ein Vater zwischen Ohnmacht, Wut und doch mit Potenzial zur Veränderung und sogar einer guten Prise Zärtlichkeit. Zu guter Letzt wandelt sich der Vater vom Front-National-Wähler zum Komplizen und ruft dem Sohn zu: „Recht so. Recht so, ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.“ So simpel und glatt das vielleicht klingen mag: Man ist irgendwo auch dankbar für dieses Fünkchen Optimismus, das Louis hier letzten Endes verbreiten will.