Britische Premierministerin Theresa May
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EU-Brexit-Aufschub

Schlechte Chancen für May im Unterhaus

Nach der Einigung mit der EU auf eine Brexit-Verschiebung muss die britische Premierministerin Theresa May nun gegen den Widerstand ihres Parlaments kämpfen. Eine Mehrheit für das Abkommen zum EU-Austritt ist weiterhin nicht in Sicht. Britische Medien stuften ihre Chancen am Freitag als gering ein und spekulierten über einen möglichen Rücktritt Mays in den nächsten Wochen oder Monaten.

Zweimal ist sie schon mit ihrem Deal im Unterhaus gescheitert. Der konservative britische Abgeordnete Craig MacKinlay sagte, es sei nahezu ausgeschlossen, dass May doch noch eine Zustimmung zum Austrittsvertrag bekommen wird. „So wie das parlamentarische Chaos derzeit aussieht, würde ich sagen, es ist sehr, sehr unwahrscheinlich“, sagte MacKinlay dem irischen Sender RTE. Völlig unklar ist, wie sich der britische Parlamentspräsident John Bercow verhalten wird. Er hatte zuletzt ausgeschlossen, ein drittes Mal über den gleichen Vertrag abstimmen zu lassen.

May versuchte am Freitag, den Druck zu erhöhen. In einem Brief an die Abgeordneten drohte sie damit, den Austrittsdeal nicht noch einmal zur Abstimmung zu bringen, wenn es keine ausreichende Unterstützung dafür gebe. Das hätte einen ungeregelten EU-Austritt zur Folge. Die Premierministerin muss die Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Partei, Unentschlossene in der oppositionellen Labour-Partei und die nordirische DUP, auf deren Stimmen ihre Minderheitsregierung angewiesen ist, von ihrem Vorhaben überzeugen.

Unklar ist aber ohnehin noch, wann im Parlament zum dritten Mal über das Brexit-Abkommen abgestimmt werden könnte. Nach Angaben eines Parlamentssprechers wird es zunächst am Montagabend eine Debatte über den Brexit-Kurs geben. Parlamentarier haben dann wieder die Möglichkeit, Änderungsanträge zur Beschlussvorlage einzubringen. Sie können so der Regierung eine Richtung vorgeben. Bindend wäre dieser Beschluss aber nicht.

Weitere Abgeordnete wegen May-Rede verärgert

Die Verärgerung der Abgeordneten über May hat in London indes zugenommen: May hatte in einer Rede am Mittwochabend ausdrücklich das Parlament für die Verzögerung des EU-Austritts verantwortlich gemacht. „Die Abgeordneten waren unfähig, sich auf einen Weg für die Umsetzung des Austritts des Vereinigten Königreichs zu einigen“, hatte May in ihrer Erklärung gesagt. Britischen Medien zufolge haben sich seitdem weitere Parlamentarier und Parlamentarierinnen von ihr abgewandt. In Brüssel hatte die Regierungschefin dagegen wieder versöhnlichere Töne Richtung britische Abgeordnete angeschlagen.

Die britische Premierministerin Theresa May (Mitte) spricht mit dem dänischen Premier Mark Rutte (rechts) und der Lithauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite (links)
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Nach der Verschiebung war die Stimmung auf dem EU-Gipfel – vorerst – gelöst

„12. April ist der neue 29. März“

Ursprünglich wollte sich Großbritannien am 29. März von der EU trennen. Die EU und May hatten sich in der Nacht auf Freitag auf die Verschiebung geeinigt: Falls das britische Unterhaus dem ausgehandelten Brexit-Abkommen nächste Woche zustimmt, soll der Austritt am 22. Mai geregelt über die Bühne gehen. Gelingt das nicht, erwartet die EU von Großbritannien bis zum 12. April neue Vorschläge. „Der 12. April ist nun der neue 29. März“, so ein Diplomat.

Tusk hat die Lacher mit neuem „Höllenscherz“ auf seiner Seite

„Unserem Papst zufolge ist die Hölle immer noch leer, und das bedeutet, dass es noch viel Platz gibt“, so EU-Ratschef Tusk dazu, ob die Hölle für Anti-Brexit-Abgeordnete vergrößert werden sollte. (Videoquelle: EBU)

May wollte ursprünglich einen Aufschub bis zum 30. Juni erreichen. Doch die EU sah die Europawahl von 23. bis 26. Mai als entscheidende Hürde. Der zweistufige Beschluss zur Verschiebung orientiert sich an diesem Datum: Der 22. Mai ist der letzte Tag vor der Wahl. Wird der EU-Austrittsvertrag rechtzeitig beschlossen und ratifiziert, steht einem geordneten Ausscheiden nichts mehr im Weg. Ein Chaos wäre abgewendet. Der 12. April ist der Tag, an dem Großbritannien spätestens entscheiden muss, ob es an der Europawahl teilnimmt. Will es einen längeren Aufschub beantragen und noch einige Monate EU-Mitglied bleiben, muss es die Wahl abhalten und Europaabgeordnete bestimmen.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
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Juncker will den Brexit „bis zum bitteren Ende“ führen

EU „auf alle Eventualitäten vorbereitet“

Von Diplomaten hieß es, ein solcher Aufschub könne bis Jahresende reichen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wollte sich auf eine solche Begrenzung nicht festlegen. Die Briten könnten in der EU bleiben „bis ganz zum Ende“, sagte er. Juncker und EU-Ratschef Donald Tusk zeigten sich erleichtert über den Beschluss der 27 verbleibenden EU-Länder. „Ich war traurig, jetzt bin ich optimistischer“, sagte Tusk. Juncker sagte: „Wir sind hoffnungsvoll, dass der Vertrag vom britischen Unterhaus angenommen wird. Mehr können wir nicht geben.“

Trotzdem sei die EU auf alle Eventualitäten vorbereitet, so Juncker. „Das gilt auch für den ‚No-Deal‘. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßte die Einigung: Es sei ein „sehr intensiver, aber auch sehr erfolgreicher Abend“ gewesen. Der luxemburgische Premier Xavier Bettel sieht die Chancen für das Erreichen eines Brexit-Deals bei 50:50. Vor Beginn des zweiten EU-Gipfeltags sagte Bettel am Freitag in Brüssel, das „beste Ergebnis wäre ein Verbleib“ der Briten in der EU.

Kurz: Ball bleibt beim Unterhaus

Bei einer dritten Ablehnung des Deals im britischen Unterhaus wäre ein ungeordneter „harter Brexit“ nach Ansicht von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) „deutlich realistischer, vielleicht sogar die einzige Option“. Kurz sagte beim EU-Gipfel am Freitag in Brüssel: „Ich glaube, dass dann ein No-Deal-Szenario deutlich näher rückt.“

Es gebe für einem solchen Fall zwar auch Gerüchte, dass der Deal vielleicht auch ohne Zustimmung des Parlaments möglich wäre, sagte Kurz. Aber „das realistischste Szenario ist, dass wir dann in einer ähnlichen Situation wieder sind wie gestern Abend“, nämlich dass die 27 EU-Staaten diskutieren müssten, wie sie mit der Situation umgehen. Über einen möglichen Rücktritt Mays wollte Kurz nicht spekulieren. Das würde nichts einfacher machen, sondern die Situation weiter verkomplizieren.

Die britische Premierministerin Theresa May
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May stellt sich den Fragen der anwesenden Journalistinnen und Journalisten

Der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenkovic warnte indes davor, dass es immer noch ein Risiko für die Europawahl Ende Mai gebe. Auf die Frage, ob er nun an einen geregelten Austritt der Briten glaube, fügte Plenkovic hinzu: „Wir sind etwas vorsichtig geworden wegen der Erfahrungen der letzten Monaten.“

Demo für EU-Verbleib am Samstag

Mit einer großen Demonstration will die Kampagne „People’s Vote“ am Samstag in London für ein zweites Brexit-Referendum demonstrieren. „Wir erwarten bis zu 700.000 Teilnehmer“, sagte ein Sprecher der Kampagne, Barney Pell Scholes, am Freitag der dpa. Die Demonstranten versammeln sich ab 14.00 Uhr MEZ. Eine halbe Stunde später soll sich der Protestzug in Bewegung setzen. Die Strecke führt mitten durch die britische Hauptstadt bis zum Parlament.

Mehr als drei Millionen Unterschriften für Verbleib

Viele Briten und Britinnen scheinen vom Brexit nichts mehr sehen und hören zu wollen. Mehr als drei Millionen unterzeichneten bis Freitagmittag eine Petition, die einen Verbleib ihres Landes in der EU fordert. Das Gesuch wurde auf der Website des britischen Parlaments freigeschaltet. Laut britischen Medien sollen ob des Andrangs die Server für die Eintragung bereits mehrmals zusammengebrochen sein. Für eine Debatte im Parlament sind 100.000 Unterschriften notwendig.

EU gewährt Brexit-Aufschub

Die EU hat den Briten noch einmal einen kurzen Aufschub gewährt, um einen harten Ausstieg zu verhindern. Damit liegt der Ball jetzt wieder beim Parlament in London.

„Die Regierung behauptet immer wieder, der Austritt aus der EU wäre der ‚Wille des Volkes‘“, hieß es in dem Petitionstext. Dem müsse ein Ende bereitet werden, indem die Stärke der öffentlichen Unterstützung für einen Verbleib deutlich gemacht werde. Großbritannien kann die Erklärung zum EU-Austritt theoretisch einseitig zurückziehen. Den Weg hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil im Dezember bestätigt. Das Land bliebe dann wie bisher Mitglied der EU. Ein weiterer Austrittsantrag wäre damit nicht ausgeschlossen. Trotzdem gilt es als äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Der Ausgang des Referendums über den EU-Austritt im Jahr 2016 war mit 51,9 Prozent zu 48,1 Prozent knapp für den EU-Austritt ausgegangen, 17,4 Mio. Briten und Britinnen hatten sich für den Ausstieg ausgesprochen.