Protest gegen Brexit

Hunderttausende für zweites Referendum

Hunderttausende Menschen haben am Samstag in London gegen einen Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union demonstriert und ein zweites Brexit-Referendum verlangt. Gegnerinnen und Gegner des Brexits versammelten sich beim Hyde Park und zogen in einem riesigen Protestzug durchs Regierungsviertel in Westminster zum Parlament.

Die Veranstalter von der Kampagne „People’s Vote“ (Volksabstimmung) wollen mit einem zweiten Referendum erreichen, dass der EU-Austritt Großbritanniens doch noch verhindert wird. Die Veranstalter schätzten die Zahl der Teilnehmenden auf rund eine Million, die Polizei gab zunächst keine offiziellen Teilnehmerzahlen bekannt. An einer ähnlichen Demonstration im Oktober hatten sich fast 700.000 Menschen beteiligt – es war die größte Demonstration in London seit Protesten gegen den Irak-Krieg im Jahr 2003 mit einer Million Beteiligten.

„Ich liebe die EU“, „Macht Artikel 50 rückgängig“ und „Wir fordern eine Volksabstimmung“ stand auf den Plakaten der Menschen, die aus dem ganzen Land in die britische Hauptstadt gekommen waren. Viele hatten EU-Flaggen dabei – teilweise sogar in Herzform. Etliche Demonstrierende machten Premierministerin Theresa May mit Puppen und Karikaturen für die verworrene Situation verantwortlich.

„Das Land wird gespalten sein“

„Das ist ein komplettes Chaos“, sagte Gareth Rae, ein Demonstrant zur Nachrichtenagentur Reuters, zum Vorgehen der Regierung von May. Er war extra aus Bristol nach London gereist. Er würde ein besseres Gefühl haben, wenn es sich beim Brexit um einen gut organisierten Prozess handeln würde und die Regierung vernünftige Entscheidungen treffen würde, sagte Rae. „Das Land wird gespalten sein, was immer auch geschieht.“

Demo in London
AP/Kirsty Wigglesworth
„Nicht genügend Platz in der Hölle für sie alle“, heißt es auf einem Demo-Schild

Unterstützung für die Demonstrierenden gab es auch von Seiten der Politik. „Der Brexit ist ein völliges und heilloses Chaos“, erklärte Londons Bürgermeister Sadiq Khan bereits am Vorabend der Proteste. Er werde darum zusammen mit Menschen aus allen Landesteilen und allen Gesellschaftsschichten auf die Straße gehen und fordern, „dass das britische Volk das letzte Wort hat“. Eine Onlinepetition für ein zweites Referendum haben mittlerweile nahezu fünf Millionen Britinnen und Briten unterzeichnet. Das britische Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen.

Auch Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon forderte die Brexit-Gegnerinnen und -Gegner am Samstag auf, das Chaos zu nutzen, um den EU-Austritt doch noch zu verhindern. Mit dem Aufschub aus Brüssel habe sich ein „Fenster“ geöffnet, sagte Sturgeon. Diese „Chance“ müssten die Brexit-Gegnerinnen und -Gegner nun nutzen.

Termindruck vor EU-Wahl

Denn auch nach jahrelanger Debatte und zähen Verhandlungen mit der EU ist noch immer nicht klar, wann und ob überhaupt Großbritannien die EU verlässt. Eine Woche vor dem ursprünglich geplanten EU-Ausstieg am 29. März hatten die EU-Spitzen Großbritannien am Donnerstagabend eine Verschnaufpause gewährt. Wenn das britische Parlament kommende Woche dem ausgehandelten, aber bereits zwei Mal im Unterhaus abgelehnten Austrittsvertrag doch noch zustimmt, wird der Brexit für die nötige rechtliche Umsetzung bis zum 22. Mai verschoben.

Sollte das Unterhaus jedoch nicht zustimmen, soll es eine Verlängerung zunächst nur bis zum 12. April geben. Auf jeden Fall will die EU Folgen für die Europawahl vom 23. bis zum 26. Mai vermeiden. Zu einer Teilnahme an den Europawahlen sagte May, sie sei „zutiefst davon überzeugt“, dass dieser Schritt „falsch“ wäre.

ORF-Korrespondentin Primosch zu den Demonstrationen

Cornelia Primosch berichtet von gedrückter Stimmung bei den Brexit-Gegnern. Eine Zurücknahme des Brexit sei unwahrscheinlich.

Eine Parlamentsmehrheit für das Abkommen zeichnet sich aber weiterhin nicht ab. Noch am Freitag hatte May versucht, ihre Torys unter Druck zu setzen: Sie werde das Abkommen nach zwei früheren Nein-Voten nur dann in der nächsten Woche erneut zur Vorlage bringen, wenn sich eine „ausreichende Unterstützung“ abzeichne, schrieb May in einem Brief an die Abgeordneten.

DUP: „Versagen“ bei EU-Gipfel

Die nordirische DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung im Unterhaus angewiesen ist, der Premierministerin ein „Versagen“ beim EU-Gipfel vorgeworfen. Hinsichtlich des Austrittsabkommens habe sich „nichts verändert“, erklärte DUP-Fraktionschef Nigel Dodds. In London wird nun darüber spekuliert, dass May statt einer dritten Abstimmung über das Austrittsabkommen eine ganze Reihe von Abstimmungen im Unterhaus ansetzen könnte, um herauszufinden, ob es im Parlament eine Mehrheit für andere Szenarien gibt.

Demo in London
AP/Tim Ireland
Nahezu eine Million Menschen aus ganz Großbritannien gingen in London auf die Straße

Völlig unklar ist auch noch, wie sich der britische Parlamentspräsident John Bercow verhalten wird. Er hatte zuletzt überhaupt ausgeschlossen, ein drittes Mal über den gleichen Vertrag abstimmen zu lassen. Der EU-Gipfel kam May für eine Abstimmung entgegen: Er billigte offiziell die Zusagen, die die EU-Kommission May im März gegeben hatte. Dieses Papier soll das Brexit-Abkommen ergänzen – und so eine neue Abstimmung im Unterhaus überhaupt ermöglichen.

Droht May der Rücktritt?

Die Zeitungen „The Times“ und „The Daily Telegraph“ berichteten, mittlerweile wachse der Druck auf May, als Premierministerin zurückzutreten. Es werde bereits über einen Zeitplan gesprochen. Aus Regierungskreisen verlautete dagegen, die Berichte seien falsch. Doch mehrere britische Minister wollen einem Journalisten der „Sunday Times“ zufolge May gar zum Rücktritt zwingen. „Es ist heute Nacht ein ausgewachsener Kabinettsputsch im Gange“, schrieb der Politikredakteur Tim Shipman am Samstagabend auf Twitter. Er berief sich auf Gespräche mit elf Ministern, die May stürzen wollten.

„‚Das Ende ist nah‘“, zitierte Shipman einen von ihnen, ohne den Namen zu nennen. „‚Sie wird in zehn Tagen weg sein.‘“ May solle am Montag bei einer Kabinettssitzung mit der Forderung konfrontiert werden. Sie solle durch einen Übergangspremier ersetzt werden, der den EU-Austritt vollziehen solle. Im Gespräch seien ihr faktischer Vize, David Lidington, Umweltminister Michael Gove und Außenminister Jeremy Hunt.

Briten gehen gegen Brexit auf die Straße

Mit einer Demonstration in London und einer vier Millionen Mal unterzeichneten Petition zeigen viele ihren Protest gegen May.

Bei der Volksabstimmung im Juni 2016 hatten sich 52 Prozent der Britinnen und Briten für einen Brexit ausgesprochen, 48 Prozent stimmten für einen Verbleib ihres Landes in der EU. Seither haben Gegnerinnen und Gegner des Austritts wiederholt ein zweites Referendum verlangt. May hat dies jedoch stets abgelehnt. Sie argumentiert, durch eine erneute Volksabstimmung über den Brexit würde sich die Spaltung des Landes vertiefen.