Mädchen bei den Hausaufgaben (Foto aus dem Jahr 1955)
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Kindheitsbuch

Sozialer Aufstieg als Entfremdung

„Unser Kind soll es mal besser haben als seine Eltern“ – dieses gut gemeinte Diktum kann auch zur Last in einer Familienbiografie werden. Wie sich Entfremdung durch den Aufstieg des Kindes, zumal eines Einzelkindes, aus dem sozialen Milieu der Eltern anfühlt, hat die Französin Annie Ernaux in einem knappen wie bewegenden Buch festgehalten. Und mit diesem Werk erst den Weg für Erfolgstitel wie Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ geebnet.

„Autofiktion“ – dieses Genreschlagwort geistert seit einiger Zeit durch die Medien. Und ist begleitet von einem Versprechen: wahre Geschichten aus dem wahren Leben. Quasi: Literatur auf Augenhöhe und im Modus der Echtheitssehnsucht, die bekanntlich im digitalen Zeitalter und geschönter Selfies besonders wichtig sein soll.

Spätestens seit Didier Eribons Milieustudie über das Umschlagen seines eigenen Herkunftsmilieus von sehr links nach radikal rechts zum großen Bucherfolg in und außerhalb Frankreichs wurde, sehnt man sich nach einem neuen Genre der zur Milieustudie geronnenen Autobiografie. Ernaux, Jahrgang 1940, darf für sich in Anspruch nehmen, in diesem Segment alles andere als eine Newcomerin zu sein, hat sie doch mit ihrem Werk „La Place“ („Der Platz“) bereits im Jahr 1983 ein markantes Ausrufezeichen für eine neue Art von Literatur gesetzt. Erst über Umwege – und man muss sagen, auch durch den Erfolg von Eribon, der ja seinerseits aus dem Kulturwissenschaftsbereich und ebenfalls nicht aus der „klassisch“ schreibenden Zunft stammt – wurde man auf die besondere Qualität ihrer Werke im deutschsprachigen Raum aufmerksam.

Annie Ernaux bei einer Lesung während der lit.Cologne 2019
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Annie Ernaux, Jahrgang 1940, und Autorin eines Werks, das „dem gelebten Leben“ kleine Monumente setzen möchte

Erschien Ernaux in den frühen 2000er Jahren zuerst bei Goldmann, so schlägt sich ihr symbolischer Aufstieg auf Deutsch nun durch die dritte Übersetzung im Hause Suhrkamp nieder, wo man ihr Werk gleich in der Edelserie „Bibliothek Suhrkamp“ nobilitierte. Kurios dabei ist: Autoren wie Eribon haben sich in Frankreich durch die Arbeit Ernaux’ ermutigt gesehen, es ihr gleichzutun. Im Bereich der Übersetzung waren ihre Nachfolger wiederum die Vorläufer für ihre späte Entdeckung.

Sehnsucht nach Texten aus dem Leben

Dass Ernaux eine derart rasende Sehnsucht nach dem Echten erfüllen kann, liegt im Fall dieser Schriftstellerin ein bisschen an den Zeichen ihrer Zeit. Dazu muss man freilich ins vordigitale Zeitalter schauen, als sich Frankreich mit Verve von der „engagierten“ Literatur eines Jean-Paul Sartre oder einer Simone de Beauvoir hin zu den Experimenten des Nouveau Roman bewegte, der so etwas wie die reine Form der Moderne sein wollte. Erzählen sollte sich von allen Konventionen ablösen, das Prinzip des Autors hinter die Kraft der Texte schieben. Und zu Recht kann man sagen, dass in keinem Land so viel über das Schreiben theoretisiert bis deliriert wurde wie in Frankreich zwischen Mitte der 1960er und 1980er Jahre.

Annie Ernaux erzählt von ihren Wurzeln

Wie sich Entfremdung durch den Aufstieg aus dem sozialen Milieu der Eltern anfühlt, erzählt die Französin Annie Ernaux in einem bewegenden Buch.

Als Ernaux im Schatten der Großen, eines Alain Robbe-Grillet, Michel Butor oder Claude Simon, zu schreiben begann, da war die Sehnsucht nach Klarheit, Direktheit und Minimalismus groß. Mit „Der Platz“ lieferte sie Mitte der 1980er Jahre tatsächlich ein Werk ab, das seinesgleichen sucht. In der Knappheit, der Reflexion auf die eigene Herkunft, der Überlegung, wie man darüber angemessen schreiben könne – und wie man letztlich auch sich selbst und den beschriebenen Intimbereich der eigenen Familie im Schreiben zugleich schützen möchte. „Mir ist das Prinzip der Fiktion immer fremd geblieben“, meinte Ernaux rückblickend auf ihr Buch „Der Platz“ und fügte hinzu: „Die Realität ist so ein außergewöhnliches Feld, und das gelebte Leben eine letztlich so enorme Größe.“

Das beinahe Unsagbare in einer Familienbiografie

Mit ihrem Buch „Der Platz“ hat sich Ernaux als Einzelkind im Moment des Ablebens eines Elternteils auf ein schwieriges Unterfangen eingelassen. Sie wollte das eigene Verhältnis zum Vater ergründen – und darauf kommen, warum man sich in der Kernzelle einer Familie so fremd werden konnte – und sich im Laufe der Zeit immer fremder wurde. Ernaux sucht die Gründe im Milieu – allerdings nicht in einer materialistischen Erklärung, die das Bewusstsein komplett aus den Dimensionen des Seins ableitet. Eher schaut sie darauf, wie bestimmte Codes und Ausdrucksformen bis hinein in den intimsten Bereich letztlich milieugebunden sind.

Offenheit, Zärtlichkeit, Verbalisierung – oder auch Freundlichkeit als Schutz, das sind ihre Seismografen, mit der sie die Lebenszeit ihres Vaters, ja auch der Vorfahren misst. Gegen die Werte des Vaters setzt sie die Werte, die sie im Verlauf ihres Lebens – und dem sozialen Wandel ihrer selbst, aber auch des ganzen Landes – kennengelernt hat. Ihre Berufung zu schreiben, sagte sie einmal, verdanke sie dem Soziologen Pierre Bourdieu, der sie mit seinen Milieustudien und seiner Theorie der kleinen, wirksamen symbolischen Formen sehr zu ihrem speziellen Zugang zu Texten ermutigt habe.

Gemüsemarkt in Yvetot
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Yvetot in der Normandie 2018: Der Ort mit seinen 12.000 Einwohnern wird bei Ernaux auch zum Seismografen für die sozialen Umwälzungen, die sich in Lebensbiografien niederschlagen.

Der gute gemeinte Aufstieg und die Folgen

Warum wird man sich fremd, obwohl doch alle das Beste füreinander wollen? Diese Frage läuft wie ein roter Faden durch die hundert Seiten dieses gerade in seiner Einfachheit und Direktheit überzeugenden Werkes. „Wir hatten alles was man braucht, was bedeutete, dass wir uns satt aßen (…)“, heißt es an einer der vielen Stellen über die sichtbaren und unsichtbaren sozialen Codes und das Funktionieren nach außen hin: „Dem Kind fehlt es an nichts. Im Pensionat konnte niemand sagen, dass ich weniger hatte als andere, ich hatte genauso viel wie die Töchter der Bauern oder des Apothekers, Puppen, Radiergummis, Anspitzer, warme Winterstiefel, einen Rosenkranz, ein Messbuch.“

Ernaux scheut sich mit ihrer Ich-Erzählerin nicht, die Stellen von Scham zu benennen. Die Verbesserung der Lebenssituation bringt bei ihr fast zwangsläufig und ohne Option, auswählen zu können, eine Entfremdung vom Herkunftsmilieu mit sich. Als sie endgültig Lehrerin wird und damit ein Moment des sozialen Aufstiegs fixiert ist, spiegeln sich Gefühle der Kindheit in der Erzählerin, wenngleich in einem anderen Setting. Das Leben, es erscheint als eine Prüfung, in der man sich zu bewähren hat. „An der Bushaltestelle dachte ich an nichts anderes als an diese Zeremonie, mit Wut und einer Art Scham“, hält die Erzählerin des Texts fest: „Am selben Abend schrieb ich meinen Eltern, ich sei jetzt ‚verbeamtet‘. Meine Mutter antwortete, dass sie sich sehr für mich freuen.“

Hatten uns nichts mehr zu sagen

Als Erzählerin möchte sie hinschauen auf die eigene Biografie, nie hinzeigen auf ihr Umfeld. „Vielleicht schreibe ich, weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten“, rekapituliert sie an einem Punkt im Buch das Verhältnis zu ihrem Vater: „Ich glaubte, dass er nichts mehr für mich tun konnte. Seine Wörter und Gedanken hatten im Französisch- oder Philosophieunterricht und auf den roten Samtsofas meiner Schulfreundinnen keine Gültigkeit mehr.“

Den Älteren, die sich nach den Erwartungssätzen ihrer Erziehung zu verhalten versuchen und zugleich den sozialen Aufstieg der einzigen Tochter wollen, sitzt eine Angst im Nacken: die Furcht, das eigene Kind könnte sich ab dem Moment des sozialen Aufstiegs von ihnen abwenden. Und schlimmer: sich eben für die eigenen Eltern schämen. Ernaux schreibt in diesem Sinn die Biografie einer Urangst. Schlagstellenartig schaut sie auf Lebensetappen – und legt damit auch den sozialen Wandel eines ganzes Landes, der sich im Hintergrund abspielt, offen.

Buchcover von „Der Platz“
Suhrkamp Verlag

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 100 Seiten, 18,50 Euro.

Ein Leben am Rand in der Normandie

Es mag Zufall sein, dass sich dieses Buch in der Normandie und damit in einer der großen literarischen Landschaften der französischen Literatur abspielt. Wie in Flauberts Normandie, könnte man fast sagen, hinken die moralischen Codes in diesem Landstrich dem größeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel Frankreichs hinterher. „Wenn ich Proust und Mauriac lese“, so die Erzählerin an einer Stelle, „kann ich nicht glauben, dass sie über die Zeit schreiben, als mein Vater Kind gewesen ist. Seine Welt ist das Mittelalter.“

Jene, die sozial im Rahmen ihrer Herkunftswelt bleiben, verbleiben auch in den alten Wertecodes und den Selbstbeschwörungsfloskeln, die in Lesefibeln der Zeit festgehalten sind: „Wir müssen lernen, stets mit unserem Schicksal zufrieden zu sein“, lernt der Vater der Erzählerin noch in seiner Lesefibel. Die Erzählerin kehrt dieser Form der Zufriedenheit nachhaltig den Rücken. Ihr Schreiben sei, wie sie gegen Ende bemerkt, das Vorhaben, „das Erbe ans Licht zu holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste“. Was die Erzählerin freilich dabei mit ihrem Vater teilt und womit sie die Wurzeln ihrer Familienherkunft berührt: Auch sie wird am Ende keine Ausdrucksformen und Gesten finden, die den distanzierten Umgang miteinander überbrücken könnten – und so die Distanziertheit des Vaters in anderer Form fortführen.

Der Welt der Kindheitssprache und all ihrer Defizite entkommt man nicht, so scheint eine indirekte Botschaft dieses Werks zu lauten. „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will“ – so fasste es einmal Doderer zusammen. Herkunft ist einfach unausweichlich, selbst wenn sich die sozialen Welten ändern mögen.