Menschen in einer Ubahnstation
Getty Images/Christoph Hetzmannseder
Studie zu EU-Arbeitsmigration

Zwiespältige Bilanz der Freizügigkeit

Die Arbeitsmigration in Europa hat laut einer Studie des Center for European Policy Studies (CEPS) zwar große wirtschaftliche Vorteile gebracht – aber nicht nur. Dort, wo Menschen hauptsächlich abwandern – etwa in Rumänien, Litauen, Kroatien und Portugal – fehlen hochqualifizierte Arbeitskräfte und das Steueraufkommen wird ausgehöhlt.

Die EU-Finanzminister beraten am Samstag auf ihrem informellen Treffen in Bukarest über das Thema. In den vergangenen zehn Jahren hat die Arbeitsmigration um die Hälfte zugenommen, schreibt das CEPS. Im Jahr 2017 erreichte sie 3,8 Prozent, nach jüngsten (noch nicht im Detail augeschlüsselt vorliegenden) Daten 2018 bereits 4,0 Prozent.

Laut der Studie habe das einerseits einen signifikanten Beitrag für das Wirtschaftswachstum in den Gastländern zur Folge gehabt, andererseits trage das höhere Einkommen der „mobilen Bürger“ außerhalb ihres Heimatlandes auch zu einem beträchtlichen Nutzen für jene bei, die zu Hause bleiben.

Infografik zur Arbeitsmigration in der EU im Jahr 2017
ORF.at; Quelle: APA

Abwanderung von Know-how und Steuerleistungen

Doch könnte gleichzeitig hohe Arbeitsmigrationsraten eine negative Auswirkung in den Ursprungsländern haben. Dabei führt CEPS die Abwanderung von Wissenschaftlern bzw. hoch qualifizierten Arbeitskräften ins Ausland (Braindrain) an sowie die Aushöhlung des Steueraufkommens im Ursprungsland des abgewanderten Arbeitnehmers.

Damit könnte die Arbeitsmigration – die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist eine der vier Grundfreiheiten der EU – vor allem durch Höherqualifizierte zu einer niedrigeren Produktivität im Entsendeland führen. Diese Hochqualifizierten verdienen dann in den Ländern, die reicher sind, mehr, und damit trage die Migration zu einer unverhältnismäßig hohen negativen Auswirkung auf die Produktivität und Wirtschaftsleistung im Entsendeland bei. Außerdem werde es für das Ursprungsland bei großer Abwanderung immer schwieriger, die Staatsverschuldung zu bedienen.

Weniger Arbeitslosigkeit in Abwanderungsländern

CEPS schreibt, dass bei einer großen Auswanderung dem Heimatland Kosten entstehen können. Die Steuerkosten einer reduzierten Erwerbsbevölkerung und einer niedrigeren Steuerbemessungsgrundlage, die zu niedrigeren Einkommensteuereinnahmen führt, können erheblich sein, wenn ein großer Teil der inländischen Arbeitskräfte auswandert. Eine kleiner werdende Bevölkerung bedeute jedoch auch Einsparungen bei den Ausgaben, und einige der mobilen Arbeitnehmer wären möglicherweise arbeitslos gewesen, wenn sie geblieben wären.

Der Ausfall der Einkommenssteuereinnahmen bei einer kleineren inländischen Erwerbsbevölkerung sollte auch durch höhere Mehrwertsteuereinnahmen für inländische Ausgaben kompensiert werden, die durch Überweisungen finanziert werden. Darüber hinaus können Rücküberweisungen zum inländischen Kapitalstock beitragen, wodurch höhere Produktivität und Löhne sowie indirekt höhere Steuereinnahmen ermöglicht werden, schreibt CEPS. In Ländern mit hoher Verschuldung kann eine alternde Bevölkerung aber in Verbindung mit der Emigration die Tragfähigkeit der Schulden verschlechtern.

Lohnunterschied wird geringer

In Zukunft werde der Lohnunterschied, der als starker Ost-West-Pull-Faktor gewirkt hat, mit zunehmender Konvergenz der Löhne wahrscheinlich an Bedeutung verlieren. Für einige Länder wie Polen, in denen sich die Löhne erheblich an das Niveau der alten EU-Länder angeglichen haben, gebe es einige Anzeichen dafür, dass die Mobilität nach außen bereits zurückgegangen ist. Bei anderen Niedriglohnländern bleibe der Lohnunterschied sehr groß, und es wird erwartet, dass die Zahlungsströme noch einige Zeit andauern.

Die Besteuerung von Arbeitskräften scheint laut CEPS dagegen bei Migrationsentscheidungen keine zentrale Rolle zu spielen. Höhere (nach Steuern) Löhne sind nicht das einzige Motiv für Mobilität. Die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen sei ein weiterer wichtiger Faktor. CEPS: „Leider scheinen einige südliche und östliche Mitgliedsstaaten Schwierigkeiten zu haben, die Lebensqualität ihrer Bürger durch effektive öffentliche Ausgaben und die Bereitstellung hochwertiger öffentlicher Güter zu verbessern. Sie erleben möglicherweise die größten Abflüsse von Arbeitnehmern und damit die größten Herausforderungen für Wachstum und Nachhaltigkeit der Rentensysteme und der Staatsverschuldung.“

Karikaturen der Finanzminister Europas
AP/Vadim Ghirda
Die EU-Finanzminister in Bukarest, gezeichnet von einem Karikaturisten – ein Scherz der rumänischen Ratspräsidentschaft

Höhere Quoten für Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ausland

Zu den Ländern, die von der Abwanderung besonders betroffen sind, gehört etwa Rumänien. Es fehlen nicht nur Hochausgebildete wie Ärzte, IT-Spezialisten und Lehrer, sondern vor allem Facharbeiter und Personal für die Gastronomie. Im vorigen Jahr hat die Regierung deswegen die zulässige Zahl an Arbeitskräften aus dem Nicht-EU-Ausland erhöht. Die IT-Branche holt Personal vor allem aus der Türkei und aus Israel, die Industrie etwa aus Vietnam. Arbeiter aus Nepal und Bangladesch werden auf dem Bau, in Hühnerfarmen und in der Textilindustrie beschäftigt.

Doch auch andere EU-Länder leiden unter der Abwanderung. In Griechenland haben nach Schätzungen mehr als 400.000 gut ausgebildete junge Menschen das Land verlassen. Immer wieder gehen Schüler und Studenten auf die Straße und demonstrieren gegen Perspektivlosigkeit. Auch aus Portugal wanderten in den vergangenen Jahren Hunderttausende Menschen ab – vor allem nach Großbritannien. Wegen der Erholung der portugiesischen Wirtschaft nach der europäischen Finanzkrise und der mit dem Brexit verbundenen Unsicherheit nahm dieser Trend zuletzt jedoch etwas ab.

Löger betont Wert von Fachkräftezuwanderung

Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) erklärte am Samstag in Bukarest, es seien Strukturreformen in den von einem Braindrain betroffenen Ländern notwendig. Kein Rütteln werde es jedenfalls an der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU geben. Die Studie von CEPS sei eine sehr gute Informationsbasis. „Wir erkennen in der Grundlage, dass es natürlich für beide Seiten Vorteile und Nachteile gibt. Auch für Österreich nehmen wir wahr, dass es Vorteile hat, wenn Talente aus Europa nach Österreich kommen. Wir brauchen diese auch als Fachkräfte für die österreichische Wirtschaft. Auf der anderen Seite steigt der Bedarf auch im Sinn budgetärer Kosten, was die Integration betrifft.“

Angesprochen darauf, ob an der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gerüttelt werde, winkte Löger entschieden ab. „Aus meiner Sicht ist das ein Grundrecht und einer der wichtigsten Pfeiler auch unseres Binnenmarktes in der EU. Und ganz besonders auch im Bereich einer Währungsunion, wo wir gefordert sind, auch gemeinsam diese Offenheit zu leben. Das ist ein wichtiger Faktor für Europa.“