Hilde Spiel: „The Streets of Vineta“, Wien-Tagebuch, 1946
ÖNB
Wien in der Literatur

Stadt der Träumer und Grantler

Artmann, Jandl, Nöstlinger – sie stehen für ganz unterschiedliche Blicke auf ihr Wiener Heimatbiotop. Das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek lädt jetzt zu einem Streifzug, der die Bundeshauptstadt entsprechend wort-, fantasie- und facettenreich aufblättert: Futter für Träumer, Grantler und scharfe Beobachterinnen.

„je müder ich bin / umso lieber / bin ich in wien“: Im Eingangsbereich weht einem hier „haiku in wien“ auf einer Fahne entgegen. Kurz und bündig – vielleicht eine Liebeserklärung an die Unausgeschlafenheit oder ein trotziges Bekenntnis zum Tachinieren, das Wien so gerne vorgeworfen wird? Geschrieben hat es jedenfalls der Dichter Ernst Jandl, der die Bundeshauptstadt immer wieder subjektiv-körperlich vermessen hat.

Exemplarisch für Jandls persönlichen Blick ist auch sein hier ebenfalls zitiertes Poem „franz hochedlinger-gasse“: „wo gehen ich/ liegen spucken/ wursten von hunden/ saufenkotz/ ich denken müssen/ in mund nehmen/ aufschlecken schlucken/ denken müssen nicht wollen.“ Da ekelig-vulgär, dort fast verträumt-liebevoll: Die beiden Gedichte markieren nur eine der Wegstrecken, die die nüchtern betitelte Sonderausstellung „Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur“ im Wiener Literaturmuseum zurücklegt.

„Wien – eine Stadt im Spiegel der Literatur“

Wie Ernst Jandl und andere die Bundeshauptstadt sahen und sehen, erfährt man in einer Ausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.

Großstadtflair in denkmalgeschützten Räumen

Entlang von fünf Kapiteln laden der Direktor des Literaturmuseums, Bernhard Fetz, und Kuratorin Katharina Manojlovic zu einer gelungenen Rundumvermessung Wiens – mit Alltagsbeobachtungen und utopischen Großprojekten, Tatortszenen und Vergangenheitsbewältigung, die Besucherinnen und Besuchern jeweils Futter für das geben, was sie suchen, ob Untermauerungen für eigene Hassliebe, Sentimentalitätsverstärker oder schlicht und einfach Inspirationen für urbane Träumereien. „Hinter der Ausstellung steht die prinzipielle Überzeugung, dass neben der real existierenden Stadt die Stadt aus Wörtern und Imaginationen besteht, zwei Phänomene, die einander überlagern“, sagte Fetz im Interview mit ORF.at.

Klosterneuburger Straße, Wien, 1970er-Jahre
ÖNB/Renate Fuchs
Wiener Straßenzeile in den 1970er Jahren: Triste Kulisse von Thomas Bernhards „Gehen“

Dass sich dieses reale vom poetisch erschaffenen Wien nicht so leicht trennen lässt, stellt gleich zu Beginn Ingeborg Bachmann mit ihren Namensgebungen aus „Das dreißigste Jahr“ unter Beweis: „Stadt ohne Gewähr!“, „schüchterne Stadt“, „Strandgutstadt“, „Türkenmondstadt“ lässt Bachmann ihren Protagonisten über Wien sinnieren, über seine „am meisten geliebte Stadt“. Die Begriffe kann man im Literaturmuseum auf großen Plakaten lesen – ein Ausstellungsdisplay, das ein wenig Großstadtflair in die denkmalgeschützte Holzarchitektur des ehemaligen k. k. Hofkammerarchivs bringt.

Einfach weiterwursteln

Mehr als ein halbes Jahrhundert Stadtgeschichte wird hier in den Blick genommen, „einiges ist natürlich noch immer höchst gegenwärtig“, so Fetz zur Aktualität des Präsentierten. Während Elfriede Gerstl schon 1961 eine „akute Tschuschophobie in Favoriten“ verortete, entwarfen H. C. Artmann und Gerhard Rühm 1974 mit der Totenmesse „requiem viennense“ ein Sinnbild, das mitten in die österreichische Seele trifft: „jetzt samma / jetzt samma / jetzt samma aus n schneida / und wuaschtln / und wuaschtln / und wuaschtln wieda weida“, heißt es in ihrem „agnus dei“.

Ausstellungsansicht
ÖNB/APA-Fotoservice/Schedl
Auch im Blick: Die Wiener Peripherie, der Trude Marznik und Christine Nöstlinger mit ihren Dialektgedichten ein Denkmal setzten

Als Fokus haben Fetz und Manojlovic – bis auf einige wenige Ausreißer – die 1950er bis 70er Jahre gewählt, was mit den eigenen Beständen zu tun hat. In der Nationalbibliothek, an die das Literaturmuseum angedockt ist, liegen die Nachlässe und Vorlässe vieler wichtiger österreichischer Literatinnen und Literaten, darunter auch jener von Peter Handke, den man hier Thomas Bernhard gegenübergestellt hat. Das Thema: Gehen.

Auf mehreren Paneelen sind Handkes Manuskripte zu „Morawische Nacht“ aufbereitet, eine poetisch-sinnliche Erkundung der Welt, handschriftlich und mit Bleistift verfasst. Auf der anderen Seite Bernhards „Gehen“, geschrieben mit der Schreibmaschine, ein Text, der zum unerbittlich monotonen Marsch über die Friedensbrücke mitnimmt. Wohl selten trifft Gerstls Bemerkung „Jeder lebt in einer anderen Stadt“ besser zu als hier.

Hauptstadt des Vergessens

„Die schönste Stadt der Welt direkt am Lethefluß / Einst Welthauptstadt des Antisemitismus ist sie heute / Vergessenshauptstadt geworden“: Robert Schindels „Vineta 1“ ist Stichwortgeber zum Kapitel über Nationalsozialismus und Erinnerungskultur. „Ich kenne die Stadt meiner ersten elf Jahre schlecht. Mit dem Judenstern hat man keine Ausflüge gemacht,“ hat Ruth Klüger nüchtern formuliert. Ihr Vorlass befindet sich erst seit wenigen Monaten in der Nationalbibliothek und wird hier erstmals exemplarisch gezeigt.

Ernst Jandls „haiku in Wien“
ÖNB/APA-Fotoservice/Schedl
Jandls „haiku in Wien“ eröffnet die literarische Erkundung der Donaumetropole

Gleich nebenan zeigt eine Vitrine eine von Frederic Morton angelegte Sammlung, die wohl jedem sofort ins Auge sticht, der seine autobiografische „Ewigkeitsgasse“ kennt: Neben Münzen, die seine slowakisch-jüdische Familie bis zum „Anschluss“ in einer Eisenfabrik in der Thelemanngasse hergestellt hatte, liegen eine Anhäufung von NS-Mutterkreuzen und einige Gürtelschnallen, die nach Kriegsende produziert wurden. Heute wird das Haus als „Kunstraum Ewigkeitsgasse“ mit Lesungen und Konzerten bespielt.

Dreharbeiten zur Verfilmung von Graham Greenes Roman „Der dritte Mann“ am Neuen Markt in Wien, 1949 und ein Auszug von „Stadtschrift. Fotos und Texte." von Bodo Hell
ÖNB/Ernst Haas
Dreharbeiten zur Verfilmung von Graham Greenes Roman „Der dritte Mann“ auf dem Neuen Markt (1949) und ein Bild aus Bodo Hells Projekt „Stadtschrift“

Zum Postskriptum lädt schließlich Bodo Hell, der mit seinem „Stadtschrift"-Projekt seit 30 Jahren Firmenschilder und andere Stadtgestaltungsformen fotografisch dokumentiert. „Der Wechsel der Schriftlichkeit“ interessiere ihn brennend, „sowohl das ‚Fleisch’, also das Ikonografische und Emblematische, als auch die Texte von damals und heute“, so Hell. Der früher gerne zitierte Slogan „Wien bleibt Wien“ lässt sich – mit Blick auf die Ausstellung und Hells Projekt – nicht wirklich bestätigen. Viel eher gilt: Wien ist anders (geworden).