Theresa May
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Brexit-Aufschub

May steht in London vor großen Hürden

London bekommt ein halbes Jahr mehr Zeit, um einen Brexit-Kompromiss auf die Beine zu stellen. Doch ob die Briten es bis zum neuen Termin – dem 31. Oktober – schaffen, sich zu einigen, scheint fraglich. Bereits am Donnerstag folgte der nächste Streit. Auch Rufe nach dem Rücktritt der britischen Premierministerin Theresa May wurden erneut laut.

Nach der Einigung des EU-Sondergipfels auf eine gut sechsmonatige Brexit-Verschiebung geht der politische Streit in London unverändert heftig weiter. Denn May hofft trotz der Einigung auf einen neuerlichen Aufschub bis Herbst, den EU-Austritt sogar noch vor dem 22. Mai abschließen zu können, damit Großbritannien nicht an der EU-Wahl teilnehmen muss. Nach Ostern will sie den Austrittsvertrag dem Parlament zum vierten Mal zur Abstimmung vorlegen. Eine Mehrheit scheint nach wie vor ungewiss.

Obwohl sich May und Labour-Chef Jeremy Corbyn zu einer Fortsetzung der Gespräche über einen Kompromiss bekannten, zeigte sich dieser am Donnerstag unnachgiebig. Corbyn nannte die erneute Brexit-Verschiebung einen „diplomatischen Fehler“. Sie sei ein „Meilenstein des falschen Handelns der Regierung im ganzen Brexit-Prozess“, so Corbyn. May sagte, es werde „schwierig“, einen Kompromiss zu erzielen, da sich dafür beide Seiten bewegen müssten.

Hoffnung auf zweites Referendum wächst

Der Labour-Chef will eine weichere Form des Brexit mit Zollunion und engerer Anbindung an die EU. Das lehnen Hardliner in Mays Konservativer Partei aber ab. Laut der britischen Tageszeitung „Guardian“ gibt es für den Erfolg der Gespräche mit Labour vor allem zwei große Hindernisse: einerseits die „fast nicht existierende Autorität der Premierministerin“ und andererseits die Frage, ob es denn überhaupt im Interesse von Labour sei, mit den Torys an einem Deal zu arbeiten.

Jeremy Corbyn
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Angesichts der festgefahrenen Lage hatte May zuletzt Gespräche mit dem oppositionellen Labour-Chef Corbyn gesucht

Dem „Guardian“ zufolge würden jene Labour-Abgeordnete, die mit dem Gedanken gespielt haben, für Mays Deal zu stimmen, durch den Aufschub nun wieder abgeneigt sein. Einige Abgeordnete, die stets ein zweites Referendum unterstützt hatten, würden jetzt – trotz Mays wiederholter Ablehnung – gar frischen Wind in den Segeln spüren und auf ein Referendum in den kommenden Monaten hoffen.

„Wird sie zurücktreten?“

Vor großen Problemen steht May aber auch in der eigenen Partei. Zahlreiche Abgeordnete sehen ihre Absetzung als oberste Priorität. Ein Minister sagte der BBC, dass nach den Osterferien ein innerparteilicher Führungsstreit ausbrechen könnte – einen neuen Premierminister bzw. eine neue Premierministerin könnte diesem zufolge bereits im Juni ernannt werden. Ab Samstag befindet sich das Unterhaus bis zum 23. April in den Osterferien.

Auch der frühere Brexit-Minister David Davis sagte May eine nur noch kurze Amtszeit voraus. „Der Druck auf sie wird nun dramatisch wachsen“, sagte Davis der BBC. Davis war aus Protest gegen Mays Kurs beim EU-Austritt von seinem Amt zurückgetreten. Der Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg hält nichts von der Verschiebung des EU-Austritts auf den 31. Oktober. Dass dies ausgerechnet der Halloween-Tag sei, entbehre nicht einer gewissen Symbolik.

„Wird sie zurücktreten?“, fragte der Tory-Politiker und Brexiteer Sir Bill Cash und spielte dabei auf Mays Versprechen vom März an, zurücktreten zu wollen, sobald ihr Deal im Unterhaus angenommen wird. May antwortete darauf: „Ich denke, Sie kennen die Antwort darauf.“

Neuerliches Misstrauensvotum nicht vor Dezember

Ein neuerliches Misstrauensvotum gegen die britische Regierungschefin ist erst im Dezember wieder möglich. „Es wird vermutet, dass das einer der Faktoren dafür ist, dass die EU den 31. Oktober als Austrittsdatum vorgeschlagen hat“, schrieb der „Guardian“. Sollte May gar der Labour-Forderung nach einer Zollunion nachgeben, würden ihr zahlreiche Rücktritte ihrer Kabinettsminister drohen. Starker Widerstand käme nicht nur, aber vor allem auch von den Brexiteers.

Berichte aus London und Brüssel

Die ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch in London und Peter Fritz in Brüssel berichten über den weiteren Brexit-Fahrplan und die Folgen des neuerlichen Aufschubs für die anstehende EU-Wahl.

Der ursprünglich für den 29. März geplante EU-Austritt des Vereinigten Königreichs war bereits einmal auf den 12. April verschoben worden. Da das Unterhaus den Austrittsvertrag noch nicht gebilligt hat, drohte am Freitag ein ungeregelter Brexit ohne Vertrag mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft und andere Lebensbereiche.

Brüssel sieht Ball bei Briten

Brüssel sieht den Ball nun jedenfalls wieder bei den Briten. Großbritannien werde bis zum neuen Termin ein „vollwertiges Mitglied mit allen Rechten“ bleiben, so EU-Ratspräsident Donald Tusk am Donnerstag. Dabei müsse sich das Land laut dem Gipfelpapier „verantwortungsvoll“ benehmen und dürfte die Ziele der EU „nicht gefährden“. „In dieser Zeit wird der Ablauf komplett in den Händen des Vereinigten Königreichs liegen.“ Die neu gewonnene Zeit solle nicht verschwendet werden. Tusk schloss nicht völlig aus, dass es eine weitere Verlängerung geben könnte.

Jean Claude Juncker  und Donald Tusk
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Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Tusk sehen den Ball nun bei den Briten

Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel begrüßte die Einigung in Brüssel. Es sei „ein sehr intensiver, sehr guter Abend“ gewesen, der die Einigkeit der EU gezeigt habe, betonte Merkel. Es hatte im Vorfeld des Gipfels am Mittwochabend aber auch einigen Widerstand gegen die Verschiebung des Austrittsdatums gegeben, allen voran von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der das mit den Gefahren für die EU-Institutionen und die Europawahl im Mai begründete.

London wird Urnengang sicherheitshalber vorbereiten

Die entscheidende Hürde für den neuen Termin war die Wahl zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai. Die EU sah vor allem die Gefahr rechtlicher Probleme, wenn Großbritannien im Sommer noch EU-Mitglied sein sollte, aber keine Abgeordneten gewählt hat. Obwohl May darauf pocht, den EU-Austrittsvertrag kurzfristig durch ihr Parlament ratifizieren zu lassen und den Brexit noch vor der Wahl zu vollziehen, wird der Urnengang sicherheitshalber vorbereitet.

Sollte in London keine rechtzeitige Lösung gelingen, schickt Großbritannien Abgeordnete ins neue Europaparlament. Etliche EU-Politiker finden das problematisch, weil die britischen Parlamentarier dann noch kurz vor ihrem Abschied bei wichtigen Entscheidungen mitstimmen könnten, unter anderem bei der Wahl des neuen EU-Kommissionschefs. Die neue Brexit-Frist soll nun mit dem Mandat der jetzigen Kommission und ihres Präsidenten Juncker Ende Oktober enden. Die EU machte zur Bedingung für die Brexit-Verschiebung, dass die britische Regierung keine wichtigen EU-Entscheidungen blockiert.