Entwickler vor einem Laptop
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China

Widerstand gegen „996“-Arbeitswoche

Maximal 44 Stunden pro Woche – wer mehr arbeitet, dem stehen Überstundenzuschläge zu. So ist die Arbeitszeit in China gesetzlich geregelt. Doch die Überstundenkultur vieler chinesischer Fachkräfte sieht anders aus. „Kein Schlaf, kein Sex, kein Leben“, so beschrieb die „South China Morning Post“ den Arbeitstag in der IT-Branche. Dagegen formiert sich nun – zumindest virtuell – Widerstand.

Seit Tagen berichten Medien – von BBC bis zu TechCrunch – über Chinas Silicon Valley in Peking. Im Vordergrund stehen aber nicht die neuesten Entwicklungen in der Branche, sondern der Zahlencode „996“, der die Arbeitskultur im IT-Bereich beschreibt: Um 9.00 Uhr erscheint man in der Arbeit, um 21.00 Uhr geht man nach Hause, und das sechs Tage pro Woche. Insgesamt, so heißt es, würden vor allem junge Angestellte 72 Stunden in der Woche arbeiten. Die Firmen würden das von ihren Arbeitern und Arbeiterinnen erwarten, so die „South China Morning Post“.

Auf die „996“-Arbeitswoche, die informell ist, hatten vergangene Woche Aktivistinnen und Aktivisten aufmerksam gemacht. Auf GitHub, einer Softwareentwicklungsplattform, starteten sie die Initiative 996.ICU. Die Seite ging in den vergangenen Tagen viral. Nutzer und Nutzerinnen legen darauf nämlich Unternehmen offen, die diese „996“-Arbeitszeiten verlangen. Auf der Liste finden sich namhafte Firmen wie JD.com, Huawei und auch die Alibaba Group, dessen Gründer Jack Ma die schon hitzige Debatte zuletzt befeuerte.

Alibaba-Gründer: „Ein Segen, 996 zu arbeiten“

„Ich persönlich denke, es ist ein großer Segen, 996 arbeiten zu können“, sagte der Milliardär laut einem über den Alibaba-Account beim Nachrichtendienst WeChat veröffentlichten Beitrag. „Viele Firmen und viele Menschen haben gar nicht die Möglichkeit, 996 zu arbeiten. Wenn Sie nicht 996 arbeiten, wenn Sie jung sind, wann können Sie jemals 996 arbeiten?“, so der Firmengründer von Alibaba, der auch die „South China Morning Post“ gehört. In einem Blogpost auf Weibo hieß es zudem: „Wenn Sie ihre Arbeit nicht mögen, ist jede Minute Folter.“

Der Firmengründer von Alibaba, Jack Ma
APA/AFP
Jack Ma, Gründer von Alibaba, will „996“ nicht verteidigen, lobt aber Beschäftigte, die „996“ arbeiten

Die jungen Leute müssten verstehen, dass Glück durch harte Arbeit entstehe. „Ich verteidige nicht 996, aber ich zolle jenen Respekt, die hart arbeiten“, wird der Alibaba-Gründer auch von TechCrunch zitiert. In Sozialen Netzwerken wurde umgehend Kritik laut. So wurde etwa gefragt, ob sich Ma jemals Gedanken über Altenpflege und Kinderbetreuung mache. „Wenn jedes Unternehmen 996 einführt, wird niemand mehr Kinder haben wollen, weil niemand mehr Zeit hat“, so ein User.

Auch das Sprachrohr von Chinas Kommunistischer Partei, die „People’s Daily“, kritisierte in einem Kommentar Unternehmen, die Arbeiter und Arbeiterinnen zu Überstunden zwingen. „Die aufgezwungene Umsetzung der 996-Überstundenkultur spiegelt nicht nur die Arroganz vieler Geschäftsführer wider, sondern ist auch unfair und unpraktisch“, hieß es. Alibaba-Gründer Ma wurde nicht explizit erwähnt. Schon Anfang April ließ die Zeitung über Weibo mitteilen: „Die Legitimität des 996-Arbeitssystems ist eindeutig fragwürdig, und es ist für den Einzelnen fast unmöglich, dazu Nein zu sagen.“

„Zahl der Faulenzer gestiegen“

Im Gegensatz zu Ma, der die 72-Stunden-Woche mehr oder weniger auf ein freiwilliges Engagement reduziert, findet Richard Liu, Gründer des chinesischen E-Commerce-Unternehmens JD.com, harte Worte zu der Debatte über Überstunden. „JD hat in den letzten vier, fünf Jahren keine Eliminierungen vorgenommen, die Zahl der Mitarbeiter ist schnell gestiegen, die Zahl der Nachfrage ist gewachsen und gewachsen, aber die Zahl jener, die arbeiten, ist gesunken“, schrieb Liu laut Reuters in WeChat. „Aber die Zahl der Faulenzer ist gewachsen!“

Laut TechCrunch, das mehrere Unternehmen kontaktierte, die auf der „996“-Liste stehen, sei es schwierig, die durchschnittliche Arbeitszeit in einer IT-Firma zu bestimmen. Ein Unternehmen mit Zehntausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe schließlich auch verschiedene Abteilungen mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen. Es sei etwa bekannt, dass Entwickler und Entwicklerinnen länger arbeiten als ihre Kollegen anderer Abteilungen. Es gebe allerdings „996“-Klauseln in Arbeitsverträgen, die in der Branche gang und gebe seien.

Chinas „Silicon Valley“
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Das Silicon Valley Chinas befindet sich im Pekinger Zhongguancun

Die „996“-Liste mit den Unternehmen wird von Usern und Userinnen befüllt und kann auch geändert werden. Falls sich falsche Angaben darunter befinden, sollen diese gelöscht werden, heißt es. „Unser Unternehmen zwingt uns zwar nicht zur 996-Arbeitswoche, aber manchmal zwingen uns schlechte Planungen des oberen Managements dazu, viele Stunden zu arbeiten, um willkürliche Managementtermine einzuhalten“, sagte ein in Peking ansässiger Entwickler gegenüber TechCrunch.

Debatte wirft Licht auf Konkurrenzkampf

Für viele Kommentatoren und Kommentatorinnen ist die Diskussion ein Sinnbild für den intensiven Wettbewerb in der Technologiebranche Chinas. Um auf dem Markt zu überleben, hätten Start-ups und Unternehmen keine andere Wahl, als extrem hart zu arbeiten, heißt es etwa. Oder: Überstunden seien in vielen IT-Unternehmen die Norm. Insbesondere in Chinas Mobilegamingsektor sei der Markt besonders angespannt.

Laut der „South China Morning Post“ kämpfen junge Angestellte und Unternehmer ständig gegen Burn-out. Einige würden schließlich zu der Erkenntnis kommen, dass sie eine bessere Work-Life-Balance für ihre eigene Gesundheit benötigen. „Andere versuchen, einen Ausweg aus einer opportunistischen Techwelt voller heißem Geld und Hype zu finden“, schrieb die Zeitung, die auch von Toten wegen hoher Arbeitsbelastung berichtete. Die Aktivisten und Aktivistinnen von 996.ICU enden auf ihrer Website übrigens mit – „Developers’ lives matter“ (Entwickler-Leben zählen, Anm.).

Lange Arbeitstage in der IT-Branche beschränken sich freilich nicht nur auf China. Das geht zumindest aus einem Twitter-Beitrag von Tesla-Chef Elon Musk hervor, den er vor einem Jahr veröffentlichte. Er habe bis zu 120 Stunden pro Woche (eine Woche hat 168 Stunden, Anm.) gearbeitet, als der Elektrofahrzeughersteller mit Problemen zu kämpfen hatte. „Es gibt viel einfachere Arbeitsplätze, aber niemand hat die Welt in 40 Stunden pro Woche verändert.“