IRA-Schild in Nordirland
APA/AFP/Paul Faith
Frau getötet

„Zerbrechlicher Frieden“ in Nordirland

Die gewaltsamen Ausschreitungen und die tödlichen Schüsse auf eine junge Frau in der nordirischen Stadt Londonderry haben international Entsetzen ausgelöst. Die Sorge, dass der alte Konflikt – nicht zuletzt durch den Brexit – wieder aufflammen könnte, ist groß. In den vergangenen Monaten war es nämlich schon zu einem Anstieg der Gewalt gekommen.

In der Nacht auf Freitag wurde die 29-jährige Journalistin Lyra McKee getötet. Sie stand in einer Menschengruppe in der Nähe von Polizeiautos. Ein Mann, so hieß es, hatte mit seiner Waffe die Polizei im Visier, die Kugel traf aber McKee in den Kopf. Sie verstarb später im Krankenhaus. Die Polizei sprach von einem „terroristischen Vorfall“, die Fahndung nach den Verdächtigen lief auf Hochtouren. Am Samstag wurden zwei Männer im Alter von 18 und 19 Jahren verhaftet. Es wird vermutet, dass sie Mitglieder der militanten New IRA sind.

Politiker und Politikerinnen aus Großbritannien, der Republik Irland und aus Brüssel verurteilten die Tat scharf. EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier sprach von einem „tragischen Mord“ und wertete die Tat als „Erinnerung daran, wie zerbrechlich der Frieden in Nordirland" sei. Es müssen alle daran arbeiten, die Errungenschaften des Karfreitagsabkommens zu erhalten“, twitterte er. Irlands Premier Leo Varadkar sagte, man dürfe denen, die Gewalt, Angst und Hass säen, nicht erlauben, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

„Besorgniserregende Situation“

Auslöser für die jüngsten Krawalle soll der jährliche Protest zu Ostern im Zusammenhang mit dem Nordirland-Konflikt gewesen sein. Die Unruhen, bei denen Fahrzeuge in Flammen standen und 50 Brandsätze auf Polizisten und Polizistinnen geschleudert wurden, trugen sich zu einem Zeitpunkt zu, an dem irisch-katholische Nationalistinnnen und Nationalisten an den Aufstand gegen die Briten im Jahr 1916 erinnern. Gegenüber dem britischen „Guardian“ sprach Jason Murphy, leitender Polizist im Fall der getöteten Journalistin, von einer „neuen Art von Terroristen“ und einer „besorgniserregenden Situation“.

Brennende Fahrzeuge in Nordirland
AP/Niall Carson
Die jüngsten Unruhen in Londonderry fanden in der Nacht auf Karfreitag statt

Jahrzehntelang hatte in Nordirland ein Bürgerkrieg gewütet, bei dem Tausende Menschen ums Leben kamen und Zehntausende verletzt wurden. In dem Konflikt standen katholische Nationalisten, die eine Vereinigung mit Irland anstreben, protestantischen Unionisten gegenüber, die weiter zu Großbritannien gehören wollen. Aber auch 21 Jahre nach dem friedensstiftenden Karfreitagsabkommen (10. April 1998, Anm.) sind paramilitärische Gruppierungen aktiv. Sie agieren wie ein Staat im Staat und finanzieren sich auch durch Drogenhandel.

Nordirische Polizei nimmt Verdächtige fest

Ein 18- und ein 19-Jähriger werden verdächtigt, mit der Ermordung einer Journalistin zu tun zu haben. Die Frau war bei Ausschreitungen in Londonderry erschossen worden.

Seit Jahresbeginn sind in Londonderry wiederholt Sprengsätze explodiert, ohne dass es dabei Verletzte gegeben hatte. Einer der Sprengsätze detonierte im Jänner vor einem Gericht mitten in der Stadt. Im März hatte sich die Neue IRA zu Paketbomben bekannt, die in London und Glasgow aufgetaucht waren. Auch die jüngsten Unruhen werden der Nachfolgegruppe der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zugeschrieben. Sie gehört zu den Dissidenten unter den irischen Republikanern, die das Karfreitagsabkommen ablehnen.

New IRA entstand zwischen 2011 und 2012

Es wird vermutet, dass sich die New IRA zwischen 2011 und 2012 nach der Fusion einer Reihe kleinerer Splittergruppen gebildet hat, darunter auch die Real IRA. Zu den Mitgliedern der New IRA gehören sowohl alte IRA-Kämpfer als auch junge Leute, die die großen Unruhen gar nicht persönlich miterlebt haben. Laut „Guardian“ ist die Gruppierung am stärksten im Norden und Westen von Belfast sowie vereinzelt in den Grafschaften Aramagh, Tyrone und eben Londonderry vertreten.

Londonderry erlangte traurige Berühmtheit durch den Blutsonntag, an den auch Wandgemälde an Häusern erinnern. Britische Fallschirmjäger erschossen dort am 30. Januar 1972 – dem „Bloody Sunday“ – 13 katholische Demonstranten. Ein weiterer erlag Monate später seinen Verletzungen. Als Folge verschärfte sich der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Aus Rache verübte die Untergrundorganisation IRA mehrere Anschläge.

Grenze zwischen Irland und Nordirland

Aber nicht nur wegen der jüngsten Unruhen und der tödlichen Schüsse steigt die Sorge, dass die Gewalt in Nordirland eskalieren könnte. Auch die Grenzsituation zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz im Zuge des bevorstehenden Brexits Ende Oktober bereitet vielen Kopfzerbrechen. Irland und Nordirland haben 500 Kilometer gemeinsame Landgrenze. Während des Nordirland-Konflikts waren weite Teile durch Wachtürme, Stacheldraht und schwer bewaffnete Soldaten gesichert.

Tony Blair, George Mitchell und Bertie Ahern
AP
Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair (r.), Cheffriedensverhandler George Mitchell und Irlands Ex-Ministerpräsident Bertie Ahern (l.) bei der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens am 10. April 1998

Heute ist die Grenze kaum sichtbar. 30.000 Menschen pendeln täglich ohne Kontrollen über die Grenze zur Arbeit, Waren und Güter passieren sie zollfrei, und Unternehmen haben grenzüberschreitend Lieferketten aufgebaut. Die EU und Großbritannien befürchten, dass der Konflikt durch neue Grenzkontrollen nach dem Brexit wieder aufflammt. Vor allem militante Splittergruppen – wie etwa die New IRA –, die das Karfreitagsabkommen (freier Grenzverkehr) ohnehin ablehnen, könnten dafür sorgen, dass alte Wunden wieder aufgerissen werden.