Buchcover
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Nell Zink

Ein Höllenritt durch die USA

Vogelliebhaberin, zurückgezogen in Deutschland auf dem Land lebend, der literarische Durchbruch erst mit 50 Jahren: Das ist Nell Zink. Die Bücher der US-Amerikanerin sind aber ganz anders, als es diese Eckdaten vermuten lassen – und das gilt auch für „Virginia“: Die Autorin, die Jonathan Franzen zu ihren größten Fans zählt, zieht darin lustig-böse ihr Herkunftsland durch den Kakao.

Zugegeben, die Geschichte hört sich zunächst ziemlich abseitig an: Eine lesbische College-Studentin verfällt einem schwulen College-Professor und bekommt mit ihm zwei Kinder; die Beziehung geht schief, die Frau flüchtet und nimmt gemeinsam mit ihrer Tochter eine schwarze Identität an. Das jedenfalls ist der Grundplot von „Virginia“ – und da verwundert es erst einmal, dass Zink im ORF.at-Interview von einem „kommerziellen Hintergedanken“ spricht, mit dem sie an dieses Buch herangegangen sei. Als „totally sexy“ für den Markt habe sie „Virginia“ konzipiert.

Wer diese rasende Romanachterbahnfahrt einmal gestartet hat, dem leuchtet das aber durchaus ein: Nell Zink dreht hier genussvoll alles durch ihren literarischen Fleischwolf, was die amerikanische Gesellschaft prägt oder derzeit beschäftigt: Von Klassen-, „Rassen“- und Geschlechterfragen über Misogynie bis zur Bildungspolitik – inklusive einer Parodie auf den amerikanischen Drang zum Happy End.

Nell Zink
Fred Filkorn
Nell Zink im Porträt des Verlages

„Ihn werde ich wahrscheinlich niemals los“

Eine „Screwball Comedy der Identität“, so nannte die „New York Times“ „Virginia“, Zinks zweites Buch, das, für den National Book Award nominiert, ihr den ersten großen Erfolg bescherte – und jetzt nach „Nikotin“ und ihrem Erstlingserfolg „Der Mauerläufer“ auch in der deutschen Übersetzung vorliegt. Als „Der Mauerläufer“ herauskam, war sie bereits 50 Jahre alt. Und wie das genau passierte, ist eine Geschichte für sich; eine, die eng verbunden ist mit einem Namen, der, so sagt Zink lachend, seither „wie ein Mühlstein“ um ihren Hals hängt: „Ihn werde ich wahrscheinlich niemals los.“

Gemeint ist ihr berühmter Kollege Franzen, wie Zink ebenfalls ein großer Vogelliebhaber. Vor einigen Jahren schrieb sie ihm einen Leserbrief, in dem sie ihn anscheinend so witzig und geistreich über seine ornithologischen Irrtümer aufklärte, dass er sie zum ernsthafteren Schreiben ermunterte und sich für „Der Mauerläufer“ kurzerhand als ihr Agent ins Zeug legte.

Auf dem Land in Brandenburg

Geschrieben hatte Zink schon immer, allerdings nur für Freunde und ohne jeglichen Veröffentlichungsgedanken, wie sie beteuert. Seit 2000 lebt sie in Deutschland. Ihr Leben finanzierte sie sich durch einen prekären Übersetzerinnenjob, der sie, weil sie sich Berlin nicht mehr leisten konnte, ins brandenburgische Bad Belzig brachte. Die Zeiten sind längst vorbei: Heute kassiert sie sechsstellige Vorschüsse.

Im 11.000-Einwohner-Städtchen ist Zink aber geblieben – was, neben Franzen, die zweite Geschichte ist, um die man nicht herumkommt, wenn man von Zink erzählt. Die promovierte Medienwissenschaftlerin nimmt das gelassen bis amüsiert: „Es gibt Menschen, die offenbar fasziniert sind, dass ich in dieser lächerlichen dorfartigen Stadt wohne.“

Eine „Haut wie ein zart gerösteter Marshmallow“

Schauplatz von „Virginia“ jedenfalls ist der titelgebende Bundesstaat im Süden der USA, den Zink selbst bestens kennt, weil sie dort aufgewachsen ist – in den verklemmten 1960er Jahren, die sie hier auch an den Anfang stellt. Los geht alles am Mädchencollege Stillwater, wo die lesbische Peggy ausgerechnet dem schwulen Dichter Lee, seines Zeichens einziges männliches Mitglied des Lehrkörpers, den Kopf verdreht – zu ihrer beider Verwunderung. Nach drei Monaten wildem Sex ist sie schwanger, vom College geflogen und von ihren literarischen Ambitionen erst einmal befreit.

Buchcover
Rowohlt

Nell Zink: Virginia. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Rowohlt Verlag, 320 Seiten, 22,70 Euro.

Zehn Jahre, ein weiteres Kind und einige Affären ihres Mannes später hat Peggy schließlich genug. Sie fährt Lees Auto mit den Worten „Theater der Grausamkeit“ in den angrenzenden See, entgeht knapp der Einweisung in die Psychiatrie und taucht mit ihrer dreijährigen Tochter Mireille unter, indem sie Papiere eines toten schwarzen Mädchens nutzt – ganz problemlos, trotz „platinblonder Haare“ und einer „Haut wie ein zart gerösteter Marshmallow“.

Eine Provinzposse

Eine oft fast cartoonhaft-ironisch gefärbte Geschichte also, die leichtfüßig Ernstes verhandelt – und eine Geschichte mit Glaubwürdigkeitsproblem? Nicht wirklich, meint Zink. Nur im Norden hätten einige Kritiker Zweifel angemeldet. In den Südstaaten „habe man sich nicht beklagt“, denn dort sei, so Zink, auch nach dem offiziellen Ende der „Rassentrennung“ die „rassistische Klassifikation auf die Spitze getrieben“ worden.

Dass Label und Zuordnungen schnell sehr willkürlich und oft absurd reduzierend sind, buchstabiert „Virginia“ jedenfalls auf vielfache Weise aus. Etwa so: „Zu welcher Minderheit gehörst du?“, fragt da die Tochter der untergetauchten Peggy ihre neue Freundin Angela. „Latina“, sagt sie daraufhin. „Wir haben uns nie mit Ahnenforschung beschäftigt, aber der Name sagt doch alles.“

„Virginia“ ist ein Familienroman, eine Provinzposse, und eine Coming-of-Age-Geschichte – und „vielleicht auch eine Operette“, wie Zink sagt. An theatraler Figurenzeichnung und einem leichten Hang zu Übertreibungen mangelt es jedenfalls nicht. So verschlafen dieses Virginia sein mag, so sehr fetzen Zinks Charaktere durch den höchst amüsanten Plot. Dass jeder sein Fett abbekommt, versteht sich von selbst.