Durchschneiden einesGrenzbalkens anläßlich der EU-Erweiterung 2004
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„Big Bang“ 2004

Die EU-Erweiterung und ihre Folgen

Mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern legte die EU 2004 den Grundstein für den größten Binnenmarkt der Welt. Als „Big Bang“ wurde die große Erweiterung in Brüssel gefeiert, und der wirtschaftliche Erfolg dieses historischen Schrittes ist unbestritten. Friktionsfrei ist die Zusammenarbeit der mittlerweile 28 aber längst nicht – und dass die EU jetzt vor ihrer ersten Verkleinerung steht, ist durchaus auch auf die Erweiterungsrunde vor 15 Jahren zurückzuführen.

Die neuen Mitgliedsländer waren damals Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die frühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien sowie die Mittelmeer-Inseln Zypern und Malta. Sie hatten in den Jahren 1990 bis 1996 Beitrittsanträge gestellt und zwischen 1998 und 2002 verhandelt. Bulgarien und Rumänien, die ebenfalls Teil der Verhandlungsrunde waren, konnten wegen Mängeln im Justizsystem erst 2007 beitreten.

Wenn es nach den Erweiterungsskeptikern gegangen wäre, hätten es wohl mehrere dieser Staaten nur mit Verspätung in die EU geschafft. Der im Jahr 2004 vollzogene „Big Bang“ war nämlich in den alten EU-Staaten alles andere als unumstritten. Insbesondere an der unzureichenden Vorbereitung des größten Beitrittskandidaten Polen wurde Kritik geübt. Doch aus historischen und wirtschaftlichen Gründen machte sich vor allem Deutschland dafür stark, Polen gemeinsam mit den anderen Kandidatenländern aufzunehmen.

Übergangsregeln als Zuckerl

Der Preis für die große Erweiterungsrunde war eine Reihe von Übergangsregelungen. So erhielten die alten EU-Staaten das Recht, ihren Arbeitsmarkt bis zu sieben Jahre für die Bürger aus den Neumitgliedern zu schließen. Auch die Agrarsubventionen gab es erst nach Jahren in voller Höhe.

Der Erweiterungsprozess ging mit einem Vertiefungsprozess innerhalb der bisherigen Europäischen Gemeinschaft einher. Die im Jahr 1992 mit dem Maastricht-Vertrag aus der Taufe gehobene EU sah neben einer stärkeren außenpolitischen Abstimmung auch die Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion vor. Um den fragilen Übergang zur Demokratie in Osteuropa abzusichern, stellte die EU bei ihrem Kopenhagener Gipfel im Juni 1993 auch politische Beitrittskriterien für die Kandidatenländer auf.

Grafik zur EU-Erweiterung
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Holprige Beitrittsprozesse

Problemlos verlief keiner der Beitrittsprozesse. Im Fall Tschechiens war es das von Österreich bekämpfte Atomkraftwerk Temelin, bei Polen die von den alten EU-Staaten befürchteten hohen Agrarsubventionen und bei Slowenien die von Rom geforderte Öffnung des Grundverkehrs für alle EU-Bürger.

Den Beitrittsantrag der Slowakei legte die EU während der Regierungszeit des umstrittenen autoritären Regierungschefs Vladimir Meciar (1993–1998) auf Eis. Aufgrund der Erfahrungen mit Meciar wurde der EU-Vertrag im Jahr 1999 um einen Sanktionsmechanismus (Artikel 7) erweitert, der einen Stimmrechtsentzug für ein die Grundrechte verletzendes EU-Mitgliedsland vorsieht.

Ungarns Ex-Premierminister Peter Medgyessy und Österreichs Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schuessel beim symbolischen Durchschneiden einer Kette an einem Grenztor im Jahr 2004
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Mai 2004: Der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) und der ungarische Premier Peter Medgyessy öffneten den Zaun zwischen den beiden Ländern – die tatsächliche Grenzöffnung ließ freilich noch bis zum Schengen-Beitritt Ungarns 2007 auf sich warten

Verfassungsverträge für Beitritte geändert

Die beim Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 beschlossene Erweiterungsrunde stellte die EU auch intern vor große Herausforderungen. Mit gleich zwei Vertragsänderungen (Amsterdam 1999 und Nizza 2001) wurden die institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung gestellt, etwa durch eine Aufwertung des Europaparlaments und eine Änderung der Stimmgewichtung zwischen den Staaten.

Da der erhoffte große Wurf wegen der gegenseitigen Blockaden der 15 Altmitglieder ausblieb, wurde gleich nach Nizza die Einsetzung eines EU-Reformkonvents vereinbart. Die von diesem in den Jahren 2003 und 2004 ausgearbeitete „EU-Verfassung“ scheiterte jedoch im Frühjahr 2005 an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden.

Ungarn jubeln über den EU-Beitritt 2004
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Hunderttausende Menschen besuchten in alten und neuen EU-Staaten Feste unter freiem Himmel, Konzerte und Feiern an Grenzübergängen. 15 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer würdigten Politiker die neue Einheit Europas.

Die beiden negativen Volksvoten wurden als Zeichen der Skepsis innerhalb der bisherigen EU-Staaten gegenüber den ärmeren Neumitgliedern gewertet. So spielte etwa der „polnische Installateur“ und die befürchtete Nivellierung von Sozialstandards in der erweiterten EU eine zentrale Rolle beim französischen EU-Verfassungsreferendum.

Zuwanderung aus Polen als Herausforderung für Briten

Ein Jahrzehnt später war die anhaltende Zuwanderung aus den osteuropäischen Neumitgliedern wohl entscheidend für das Austrittsvotum Großbritanniens. Anders als etwa Deutschland und Österreich hatte das Vereinigte Königreich seinen Arbeitsmarkt sofort für Zuwanderer geöffnet, weswegen innerhalb weniger Jahre rund eine Million Polen zuwanderten. Dass der damalige Labour-Premierminister Tony Blair „all diese Leute aus Osteuropa sofort hereingelassen hat, war ein schrecklicher Fehler“, betonte kürzlich der britische Ökonom Patrick Minford.

Der irische Premierminister und Präsident des Europarats, Bertie Ahern  begrüßt am 01.05.2004 den EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi und den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pat Cox, zum Tag der EU-Erweiterung in Dublin Castle.
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Unter irischem Ratsvorsitz begrüßte die EU-Spitze – Kommissionspräsident Romano Prodi, EU-Ratsvorsitzender Bertie Ahern und EU-Parlamentspräsident Pat Cox – in Dublin die neuen Mitglieder bei einem Vergrößerungsgipfel

Gespanntes Verhältnis zu Brüssel

Aber auch heute ist das politische Verhältnis zur EU in den 2004 beigetretenen Ländern nicht überall ganz einfach. Polen zum Beispiel gilt nach dem Rechtsruck unter der seit 2015 regierenden PiS-Regierung in der EU-Hauptstadt Brüssel als Sorgenkind. Kritiker sehen unter anderem durch Justizreformen EU-Grundwerte bedroht. Wenn die EU-Kommission bei umstrittenen Gesetzen interveniert, wird das von den Nationalkonservativen als „Überschreitung von Brüsseler Kompetenz“ scharf kritisiert.

In Ungarn fährt der rechtsnationale Premier Viktor Orban bereits seit 2010 einen Kurs, der vielen in der EU Sorgen bereitet. Orban wird vorgeworfen, als eine Art gewählter Alleinherrscher den Rechtsstaat und die Medienfreiheit zu demontieren. Die EU-Kommission und das Europaparlament haben mittlerweile gegen beide Länder eine Reihe von Vertragsverletzungsverfahren auf den Weg gebracht.

Bei den Bürgern hat die EU dennoch nach wie vor hohe Zustimmungswerte: In Ungarn etwa liegen sie bei um die 75 Prozent. In Polen hält sich die PiS vor der Europawahl Ende Mai mit Europakritik zurück, um angesichts der proeuropäischen Einstellung der Polen vor allem unentschlossene Wähler der Mitte nicht zu verprellen.

Wirtschaftlich immer noch unter EU-Schnitt

Was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, sind sich die meisten Experten jedenfalls einig: Die Aufnahme der zehn Länder war ein großer Erfolg. Doch 15 Jahre danach ist auch klar, dass die wirtschaftliche Konvergenz von Alt- und Neumitgliedern trotz des teils rasanten Aufholprozesses in letzteren noch auf sich warten lässt. Immer noch ist keines der neuen Mitgliedsstaaten reicher als der EU-Durchschnitt.

Es genügt ein Blick auf die EU-Konjunkturprognose für das heurige Jahr: Während im EU-Durchschnitt ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent vorhergesagt wird, verbuchen die Neumitglieder zum Teil mehr als doppelt so hohe Wachstumsraten. Estland und Litauen haben mit jeweils 2,7 Prozent noch die schlechtesten Werte, Malta (5,2 Prozent) und die Slowakei (4,1 Prozent) die besten.

In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Wirtschaftskraft aller zehn Neumitglieder mit Ausnahme Sloweniens und Zyperns erhöht. Beide Staaten waren während der Finanzkrise am Rande des Bankrotts, wobei es Zypern besonders hart erwischte. Von allen zehn Beitrittsländern am wohlhabendsten war im Jahr 2017 Malta mit 96 Prozent der EU-Wirtschaftskraft pro Kopf. Damit konnte das kleinste EU-Land, das im Jahr 2004 mit 80 Prozent des EU-BIP pro Kopf gestartet war, das große Nachbarland Italien einholen.

Litauen als größter Gewinner

Den größten Sprung nach vorne machte Litauen, dessen BIP pro Kopf nach Kaufkraftparitäten sich von 52 auf 78 Prozent erhöhte. Es folgen Estland (von 57 auf 79 Prozent), Lettland (von 47 auf 67 Prozent), die Slowakei (von 57 auf 76 Prozent) und Polen (von 51 auf 70 Prozent). Etwas geringer fielen die Anstiege in Tschechien (von 78 auf 89 Prozent) und Ungarn (von 63 auf 68 Prozent) aus.

Während kein Beitrittsland den EU-Durchschnitt erreichen konnte, konnten mit Ausnahme Lettlands alle den Euro-Krisenstaat Griechenland (67 Prozent des durchschnittlichen BIP pro Kopf nach Kaufkraftparitäten) überholen. Portugal haben Malta, Zypern, Tschechien, Slowenien, Estland und Litauen hinter sich gelassen. Zum Vergleich die österreichische Wirtschaftskraft pro Kopf: Sie lag im Jahr 2017, wie schon im Jahr 2004, bei 127 Prozent des EU-Durchschnitts.

Gruppenfoto mit Europas Staatsmänner am 1. Mai 2004 in Dublin vor der Zeremonie zur EU-Erweiterung
Reuters/Yves Herman
Erstes Gruppenbild mit den Staats- und Regierungschefs der neuen EU-Länder beim Gipfel in Dublin 2004. Mit dabei auch die Staatsoberhäupter der damaligen Anwärterländer Bulgarien, Rumänien und Türkei.

Juncker: „Unabhängig von der Anzahl schwierig“

Für EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker haben sich die Erwartungen an die Erweiterung trotz aller Differenzen und Probleme großteils erfüllt. „Ich bin immer noch ein großer Fan der Erweiterung“, sagt der EU-Kommissionschef und langjährige luxemburgische Premierminister im Interview mit Medien aus Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei.

„Ich habe nicht eine einzige Sekunde bereut, dass wir die zehn Länder zurück ins Herz Europas gebracht haben, da ich immer der Meinung war, dass das ein großer Moment in der Geschichte war.“ Europas Geografie und Geschichte seien mit der Erweiterungsrunde versöhnt worden. Die Entscheidungsfindung sei mit 28 Mitgliedsländern auch nicht schwieriger geworden: „Es ist unabhängig von der Anzahl der Mitgliedsländer schwierig.“