Frauen arbeiten in der Türkei mit geernteten Haselnüssen
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Schuften für Nutella

Ausbeutung auf türkischen Haselnussfarmen

Rund 70 Prozent des Haselnussbedarfs weltweit wird von Farmen an der türkischen Schwarzmeerküste gedeckt. Unternehmen wie Ferrero und Nestle beziehen von dort Massen an Nüssen für Nutella, Müsli und Schokoriegel – allerdings nicht ohne Opfer. Nach den andauernden Vorwürfen der Kinderarbeit folgt nun Kritik, dass syrische Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen auf den Feldern ausgebeutet würden.

Wie die „New York Times“ („NYT“) am Montag berichtete, würden seit der Flüchtlingskrise Tausende in die Türkei geflüchtete Syrerinnen und Syrer auf Haselnussfarmen im Norden des Landes arbeiten. Ein Hotspot der Produktion sei die Gegend um die Stadt Akcakoca in der Provinz Düzce. Die Zeitung bezieht sich in ihrer Berichterstattung auf Interviews mit Betroffenen. Ihnen zufolge ist die Arbeit auf den Farmen beschwerlich, riskant und schlecht bezahlt.

So sei es den Erntehelfern etwa über Stunden unmöglich, während ihrer Arbeit gerade zu stehen. Aufgrund des stark abfallenden Geländes befinden sie sich laut „NYT“ stundenlang in gebückter Haltung unter den Sträuchern und müssen 50 Kilo schwere Säcke schleppen. Um dabei auf den steilen Hängen nicht abzustürzen, müssen sich die Arbeiter mit Seilen an Felsen festbinden. Viele von ihnen hätten außerdem keine menschenwürdige Unterkunft und würden in Plastikzelten neben den Feldern übernachten.

Unfaire Bezahlung, kaum Arbeitnehmerschutz

60 türkische Lira (neun Euro) pro Tag betrage der Lohn, berichtete ein aus Syrien geflohener Vater der „NYT“. Ein Arbeitstag besteht der Zeitung zufolge in etwa aus zwölf Stunden Arbeit auf dem Feld, sieben Tage die Woche wird gearbeitet. Die Bezahlung laufe dabei allerdings nicht über die Bauern direkt, sondern über Mittelsmänner, die auch die Jobs vermitteln. Diese behielten dann mindestens zehn Prozent des Lohns, so der Syrer. Auch Fälle der Korruption und des Diebstahls gibt es laut „NYT“ immer wieder.

Haselnussbaum
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Haselnüsse wachsen auf Sträuchern. Reif sind sie, wenn sie von selbst zu Boden fallen.

Zusätzlich ist das System auf Loyalität aufgebaut: Laut der Zeitung hielten die Mittelsmänner oft einen Teil des Lohns zurück und bezahlten den Arbeitern nur das Allernötigste für den Tag aus – so viel, dass sie gerade einmal ihr Essen bezahlen könnten. Der Rest werde im Idealfall am Ende der Saison ausgezahlt, jedoch sei auch das nicht immer der Fall. Überdies gebe es zahlreiche Konflikte zwischen Mittelsmännern und Bauern – etwa wenn die Bauern Geld zurückhielten.

Zudem besitzen der „NYT“ zufolge nur wenige der syrischen Flüchtlinge überhaupt eine Arbeitserlaubnis – und auf dem Schwarzmarkt gibt es erst recht keinen Arbeitnehmerschutz. Das türkische Arbeitsgesetzbuch betrifft allerdings landwirtschaftliche Betriebe mit weniger als 50 Angestellten nicht. Kritikerinnen und Kritiker sehen deshalb die Schokoladenhersteller gefragt, sich um den Arbeitnehmerschutz zu kümmern.

Ferrero: „Einsatz für sichere und anständige Bedingungen“

Hauptabnehmer der Haselnüsse sind die Global Player der Süßigkeitenproduktion – allen voran die Nutella-Mutter Ferrero, die etwa ein Drittel aller in der Türkei geernteten Haselnüsse aufkauft. Immer wieder hagelt es scharfe Kritik für den Konzern, ausbeuterische Arbeit zuzulassen – und das, obwohl die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Partnerin von Ferrero ist. Von Ferrero hieß es in einer E-Mail an die „NYT“ nur knapp: „Ferrero setzt sich dafür ein, seinen Mitarbeitern sichere und anständige Arbeitsbedingungen zu bieten, und wir bitten unsere unabhängigen Landwirte, dasselbe zu tun.“ Offizielle Angaben, woher die Haselnüsse genau stammen, gibt es nicht.

Karte von der Türkei
Grafik: APA/ORF.at

Ferrero ist ein privat geführtes Familienunternehmen mit dem italienischen Geschäftsmann Giovanni Ferrero an der Spitze. Der Großunternehmer gibt nur wenige Interviews. Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ schätzt Ferreros Privatvermögen auf 22,3 Milliarden US-Dollar (19,9 Mrd. Euro). Für ORF.at war das Unternehmen vor Erscheinen dieses Berichts nicht erreichbar. Allerdings konnte die Fair Labor Association, die die Zustände auf den türkischen Farmen beobachtet, in den letzten sechs Jahren keine einzige Haselnussfarm in der Türkei finden, „in der alle Standards für menschenwürdige Arbeit erfüllt werden“, wie Richa Mittal, Direktorin der NGO, bekanntgab.

Nestle: „80 Prozent verantwortungsvoll beschafft“

Nestle, ebenfalls Hauptabnehmer für türkische Haselnüsse, führt indes die enge Zusammenarbeit mit der Fair Labor Association auf seiner Website an und verweist unter anderem darauf, dass 80 Prozent seiner Haselnüsse „verantwortungsvoll beschafft“ würden. Außerdem halte man sich an die „Richtlinien zur Eliminierung von Kinderarbeit und Zwangsarbeit in landwirtschaftlichen Versorgungsketten“ der USDA.

Von Nestle ist bekannt, dass der Konzern sowohl mit der türkischen Regierung als auch mit den örtlichen Haselnusszulieferern Olam und Balsu zusammenarbeitet. „Gemeinsam haben wir die Risiken von Kinderarbeit und Zwangsarbeit in der Haselnusslieferkette ermittelt, die auf Zehntausende saisonale Wanderarbeiter angewiesen ist. Anschließend haben wir unsere Fähigkeit zur Bewältigung dieser Risiken verstärkt“, heißt es auf der Website von Nestle. Auch von Nestle gab es gegenüber ORF.at bis zum Veröffentlichungszeitpunkt kein Statement.

Arbeiter in einer türkischen Haselnussfarm
APA/AFP/Ozan Kose
Ferrero und Nestle gehören zu den Hauptabnehmern der türkischen Haselnüsse

Österreichische NGOs wie Südwind und Global 2000 empfehlen kritischen Konsumentinnen und Konsumenten, auf Gütesiegel zu achten – jedoch seien auch diese mit Vorsicht zu genießen und im Zweifel einem „Gütesiegel-Check“ zu unterziehen, der auf den jeweiligen Websites zu finden ist.

Rund 200.000 Syrer in türkischer Landwirtschaft tätig

Dass gerade die Türkei das Zentrum der weltweiten Haselnussproduktion ist, basiert einerseits auf den günstigen klimatischen Bedingungen und dem lehmigen Boden an der Schwarzmeerküste, andererseits auf Anreizen der Regierung. In den späten 1930er Jahren schaffte die CHP, die Republikanische Volkspartei, Anreize für Bäuerinnen und Bauern, Haselnusssträucher zu pflanzen. Damit sollten Murenabgänge auf den steilen Hängen verhindert und auch die lokale Wirtschaft gestärkt werden.

Heute macht der Agrarbereich der Türkei insgesamt etwa sechs Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Neben der Haselnuss zählen dazu vor allem Orangen, Tee, Baumwolle und Tabak. Der „NYT“ zufolge macht die Haselnussernte in einem guten Jahr in etwa 1,8 Mrd. US-Dollar (1,6 Mrd. Euro) aus.

Ungefähr ein Fünftel der türkischen Bevölkerung arbeitet im Agrarbereich – darunter viele Saisonarbeitskräfte. Schätzungen zufolge sind zusätzlich rund 200.000 syrischen Flüchtlinge in der türkischen Landwirtschaft tätig. Etwa 3,4 Millionen Syrerinnen und Syrer flohen seit 2011 vor dem Regime unter Baschar al-Assad und der Terrormiliz IS in die Türkei.