Mädchen und Junge sitzen Rücken an Rücken
ORF.at/Zita Klimek
Europa und die Jungen

Es ist kompliziert

Die EU hat ein Problem mit ihrer Jugend. Keine Generation fühlt sich europäischer als die unter 25-Jährigen, doch bei der Teilnahme hakt es. Gleichzeitig muss sich die EU-Politik die Frage stellen, wie gut sie Junge eigentlich vertritt. Eine Zahl dazu spricht Bände: Von den de facto 748 EU-Abgeordneten ist nur ein einziger unter 30 Jahre alt.

Insgesamt lag das Durchschnittsalter im EU-Parlament zuletzt bei 56 Jahren. Maximal 40 Jahre alt sind nur 77 Personen. Es gibt vier Abgeordnete über 80, aber eben nur einen unter 30: den 29-jährigen Belgier Ralph Packet, der seit dem Vorjahr die nationalistische Partei N-VA im EU-Parlament vertritt. Auf der anderen Seite stehen die Jungen, die nicht gerne wählen gehen. 2014 nahmen unionsweit nur 28 Prozent der unter 25-Jährigen an der EU-Wahl teil. In Österreich waren es 29 Prozent.

Beide Problematiken kennt Terry Reintke nur zu gut. Sie war erst 27, als sie 2014 direkt nach der Wahl ins EU-Parlament einzog. Die deutsche Grünen-Politikerin war damit nicht nur die jüngste unter den Mandataren und Mandatarinnen, sie ist bis heute die jüngste weibliche Abgeordnete. Damit hatte Reintke keinen leichten Start, wie sie heute erzählt: „Ich hatte zu Beginn den Eindruck, dass es eine Irritation gab, dass die meisten Menschen nicht davon ausgegangen sind, dass ich Abgeordnete bin“, so Reintke gegenüber ORF.at. „Das waren zum Teil unangenehme Erfahrungen.“

Parlamentarierin Terry Reintke
Reuters/Christian Hartmann
Reintke hat im Vorjahr die „MeToo“-Debatte auch ins EU-Parlament getragen

„Ich hatte das Gefühl, dass es einen Anspruch gab: Die muss sich beweisen, bevor wir sie ernst nehmen.“ Andererseits hätten sich diese Hürden relativ rasch gelegt, und sie habe an einer gleichberechtigten Debatte teilnehmen können. Seither bearbeitet die heute 33-Jährige, die sich am 26. Mai erneut zur Wahl stellt, im Parlament auch Themen, die viele Jüngere heute besonders beschäftigen: Etwa Klimaschutz, Netzpolitik, Gleichberechtigung und Sexismus.

Zahl der Abgeordneten:

Eigentlich hat das EU-Parlament 751 Abgeordnete. Wegen ausbleibender Nachbesetzungen waren es zuletzt aber nur noch 748.

Letzteres sei auch im EU-Parlament ein großes Thema, so Reintke. Als junge Frau werde man mit Dingen konfrontiert, mit denen gleichaltrige männliche Kollegen nicht zu kämpfen hätten. „Das Nicht-ernst-genommen-Werden, das Sich-erst-beweisen-Müssen, das ist bei jungen Frauen noch viel stärker. Auch die Frage, ob man nicht eine Familie gründen will. Dass einem Kompetenzen abgesprochen werden, weil man noch keine Kinder hat – das würde niemals einem Mann unterstellt werden“, so Reintke. „Das nervt, das raubt Energie und sollte 2019 auch keine Rolle mehr spielen.“

Grafik zeigt Altersverteilung im europäischen Parlament
Grafik: ORF.at; Fotos: EP, European Union 2019

„Die Mischung macht’s“

Obwohl Reintke aktuell eine Verjüngung der Europapolitik sieht, findet sie, dass Junge im EU-Parlament immer noch nicht gut genug repräsentiert sind. Nach wie vor gebe es „viele altgediente Politiker, für die man im nationalen Kontext keine Verwendung mehr hat“. „In der Gesamtschau ist das EU-Parlament nicht repräsentativ für die Gesellschaft. Deren gesamte Vielfalt muss abgebildet werden. Junge müssen drin sitzen und mitgestalten“, so Reintke.

Das findet auch Paul Schmidt von der Österreichischen Gesellschaft für Europa-Politik (OGfE). Für ihn sollte das Parlament ein Spiegel der Gesellschaft sein – und da gehören auch die Jungen dazu. Dementsprechend wäre er dafür, dass sich die Altersstruktur der europäischen Bevölkerung auch im EU-Parlament widerspiegelt. „Die Mischung macht’s“, sagt Schmidt gegenüber ORF.at – und schreckt auch nicht vor dem Wort Quote zurück.

Hohe Hürden für Junge

Ohnehin gebe es laut Reintke „heute immer mehr Junge, die dezidiert in Europa Politik machen wollen, weil hier sehr viele Entscheidungen getroffen werden“. Doch die Hürden für einen Einstieg in den Brüsseler Politikkosmos sind hoch – vor allem für Junge, vor allem hierzulande. Das beginnt bei der Erstellung der Listen für die EU-Wahl und den politischen Machtdynamiken dahinter: „Jene, die Erfahrung haben, die einen Bekanntheitsgrad haben, die haben einen Startvorteil in unserem politischen System“, so Schmidt.

Grafik zur EU-Wahl-Beteiligung von Jugendlichen 2014
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Europäisches Parlament

Verankerung in der Partei, eine abgeschlossene Ausbildung, ein gewisses Ansehen in der Öffentlichkeit – all das muss ein junger Politiker erst einmal bieten können. Gerade in einem kleinen Land wie Österreich, das nicht viele Mandatare entsenden darf. Zudem dürfte unter Parteien die Befürchtung herrschen, dass sich Junge eher im Politiklabyrinth Brüssel verlieren könnten und nicht genug Verankerung besitzen. Die raren Listenplätze werden daher eher für altbekanntes Personal reserviert.

Junge kämpfen in Österreich um Mandate

Ein entsprechend geringer Jugendfaktor herrscht auch im aktuellen österreichischen Wahlkampf. Es gibt sie zwar, die Kandidatinnen und Kandidaten unter 35 – sie müssen aber fast alle um ihr Mandat bangen. Die Ausnahme ist NEOS mit der 31-jährigen Spitzenkandidatin Claudia Gamon. Bei der FPÖ steht die ebenfalls 31-jährige Petra Steger auf Listenplatz drei. Bis vor dem „Ibiza-Skandal“ war ihr damit ein Mandat sicher, nun ist allerdings alles offen.

Fotostrecke mit 8 Bildern

NEOS-EU-Spitzenkandidatin Claudia Gamon
ORF.at/Peter Pfeiffer
Die politischen Wurzeln von Claudia Gamon liegen in der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH), seit 2015 sitzt sie für ihre Partei im Nationalrat
Nationalratsabgeordnete Petra Steger (FPÖ)
ORF.at/Roland Winkler
Petra Steger (FPÖ) sitzt bereits seit 2013 im Nationalrat, die Basketballerin ist auch Sport- und Jugendsprecherin ihrer Partei
SPÖ-EU-Kandidatin Julia Herr
APA/Barbara Gindl
Julia Herr (SPÖ) ist seit 2014 Vorsitzende der Sozialistischen Jugend (SJ). Einen Einzug in den Nationalrat verpasste sie bei der letzten Wahl.
Christian Zoll, ÖVP-Spitzenkandidat zur EU-Wahl
picturedesk.com/EXPA/Michael Gruber
Der jüngste ÖVP-Kandidat Christian Zoll betätigte sich in der Jungen Volkspartei (JVP), der Bundesjugendvertretung und der Jugendorganisation der Europäischen Volkspartei (YEPP)
Katerina Anastasiou, KPÖ-Spitzenkandidatin zur EU Wahl
ORF.at/Christian Öser
Katerina Anastasiou tritt für die KPÖ als Spitzenkandidatin an – sie arbeitet u. a. für den linken Europa-Think-Tank transform!europe
EU-Parlamentarier Ralph Packet
Europäische Union/Benoit Bourgeois
Der Belgier Ralph Packet (N-VA) ist mit 29 Jahren aktuell das jüngste Mitglied im Europäischen Parlament
Jordan Bardella (Rassemblement National (RN))
APA/AFP/Jean-Christophe Verhaegen
Der 23-jährige Jordan Bardella kandidiert für Marine Le Pens rechtem Rassemblement National (RN) auf Listenplatz eins. Ein Einzug ist ihm sicher.
Comedian Nico Semsrott
picturedesk.com/First Look/Hans Leitner
Der 33-jährige deutsche Satiriker Nico Semsrott will ebenfalls ins Europaparlament. Er kandidiert für Martin Sonneborns Partei Die Partei. Sonneborn selbst tritt ebenfalls erneut an – er konnte bereits 2014 ein Mandat ergattern.

In den anderen Parteien stehen die Jungen weit hinten auf den Listen – etwa der 25-jährige ÖVP-Politiker Christian Zoll. Er besetzt Platz neun, könnte allerdings vom Vorzugsstimmensystem der Partei profitieren. Bei der SPÖ zieht die 26-jährige Julia Herr auf Listenplatz sechs in den Wahlkampf und muss damit bereits bangen – derzeit werden der SPÖ fünf Mandate prophezeit. Für die KPÖ geht die 35-jährige Katerina Anastasiou ins Rennen, aber ein Platz ist unwahrscheinlich. Keine Kandidatinnen oder Kandidaten aus der Altersgruppe auf einem wählbaren Listenplatz gibt es bei den Grünen und bei Initiative 1 Europa.

Themen, nah am Leben

Das personelle Identifikationsangebot ist die eine Sache – die andere sind die Inhalte. Dass die EU eine sperrige Angelegenheit sein kann, macht die Vermittlungen auch bei den Jungen nicht einfacher. Rolle man EU-Politik allerdings von Themen ausgehend auf, seien Jugendliche oft außerordentlich interessiert, sagt Schmidt, der für die Vermittlung von Europapolitik viel in Schulen unterwegs ist.

Heiß diskutiert werden dabei vor allem Klima und Umwelt, sagen Schmidt und Reintke übereinstimmend. „Klimawandel ist das Thema Nummer eins in den Schulen. Die Schüler und Schülerinnen sagen: Wir können nicht über anderes diskutieren, wenn unsere natürlichen Lebensgrundlagen kaputtgemacht worden sind. Da bringt mir eine gute Wirtschaftspolitik dann wenig. Bei den Jungen ist ein sehr viel größeres Gefühl von Dringlichkeit da“, so die Abgeordnete.

Jugendliche während einer „Fridays for Future“-Demonstrantion
Reuters/Annegret Hilse
„Fridays for Future“: Umwelt- und Netzpolitik brachten Junge zuletzt wieder auf die Straße

Aber auch der Brexit, Migration und Integration sowie Netzpolitik seien für die Jungen wichtige Fragen, sagt Schmidt. Entscheidend sei es, das Treiben in Brüssel und Straßburg mit der Lebensrealität zu verknüpfen – egal ob man einen Lehrling oder einen jungen Studierenden anspreche.

Wie groß dann der Widerhall dann sein kann, wurde beim Thema Urheberrechtsreform – Stichwort Upload-Filter – deutlich. Die Kontroverse über eine mögliche Einschränkung der Freiheit im Netz sorgte unter den Jugendlichen für ein politisches Aufbäumen, mit dessen Ausmaß kaum einer gerechnet hatte. Gleichzeitig machte das Thema auch eine gewisse Alterskluft beim inhaltlichen Zugang und bei den unterschiedlichen Lebensrealitäten sichtbar. Am Ende kollidierten für die Jungen Erwartungen mit Realpolitik – Ähnliches zeigt sich auch in der Klimadebatte.

EU-1x1 mit Influencern

Verschärfend kommen laut Schmidt wahltaktische Überlegungen der Parteien dazu. Eben weil die jungen Wähler sich tendenziell eher spontan für eine Partei entscheiden, die Mobilisierung schwierig, und der Anteil am großen Stimmkuchen eher gering ist, würden sich Parteien nicht unbedingt auf dieses Wählersegment konzentrieren. Und dann stellt sich freilich noch die Frage, wie man die Jungen eigentlich erreicht.

„Es geht nicht einfach nur darum, andere Kanäle zu benutzen, Dinge über Soziale Medien zu kommunizieren“, glaubt Reintke. „Auf Facebook sind mittlerweile einige Abgeordnete, aber die Jungen sind nicht mehr auf Facebook.“ Und was dort gepostet werde, „nimmt ja auch keinen mit“, so die Abgeordnete. „Auch die Sprache, die wir benutzen, muss sich verändern. Wir arbeiten an sehr komplexen Texten, diese müssen wir nachvollziehbarer machen.“

Mit niederschwelligen Infos will auch das EU-Parlament selbst die Wahlbeteiligung ankurbeln. Dabei setzt man heuer zum ersten Mal auf Influencer, die auf YouTube, Instagram und Snapchat kräftig die Werbetrommel für die EU rühren. Für den deutschsprachigen Raum wurden Alex Böhm (Alexi Bexi), Nadine Steuer (Kupferfuchs) und Lisa Sophie Laurent damit beauftragt, für die EU-Wahl zu werben und verschiedene Aspekte der Europapolitik – namentlich Netzpolitik, Frauenpolitik und Umweltschutz – zu thematisieren. „Wenn die EU ein Kuchen wäre …“, heißt etwa ein Video aus der Kampagne. Für Schmid ein Angebot, das zumindest kurzfristig mobilisieren kann.

„Junge müssen sich EU holen“

Grundsätzlich glaubt der Politikwissenschaftler aber, dass Junge in der Europapolitik auch eine Holschuld haben – diese müssten sich „die EU holen“: „Die Jungen müssen aufwachen und im Sinne einer gesellschaftspolitischen Eigenverantwortung die Zukunft selbst in die Hand nehmen. Nicht nur auf der Straße, sondern auch in Institutionen – und dort bestimmen, in welche Richtung die Entwicklung geht.“

Ein erster Schritt: die Stimmabgabe am Sonntag. Derzeit gehen die Prognosen davon aus, dass die Wahlbeteiligung insgesamt ähnlich ausfallen wird wie beim letzten Mal. Unter den Jungen sieht die OGfE ein gestiegenes Interesse: Laut einer Umfrage mit 3.704 Schülerinnen und Schülern wollen 54 Prozent ihr Wahlrecht „sicher“ wahrnehmen, 29 Prozent „eher schon“. Nur zwölf Prozent wollen „eher nicht“ wählen, fünf Prozent schließen das völlig aus.

„Die Wahlbereitschaft ist hoch. Die Frage ist, wie das ins Ziel gebracht werden kann“, sagt Schmidt dazu. Er weiß aus seiner Erfahrung bei der EU-Jugendarbeit, dass echte Bewusstseinsbildung ein Langstreckenlauf ist, der für die Demokratie aber notwendig ist. Deswegen seien die Institutionen gut darin beraten, den Jungen eine stärkere Stimme zu geben, und „der Jugend Tor, Tür, Fenster und Sitzungsagenden zu öffnen und ihr zu zeigen, dass sie ernst genommen wird“.