EU-Sterne
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Ost gegen West

Unvermeidlicher Konflikt in der EU

Innerhalb der EU gibt es einen Konflikt, der kaum zu lösen scheint: Seit Jahren ist der Zwist zwischen West und Ost immer wieder augenscheinlich. Insbesondere während der Flüchtlingskrise trat er klar zutage: Integrationsversuche im Westen, tiefgreifende Ablehnung von Flüchtlingen im Osten – was wiederum im Westen als mangelnde Solidarität gesehen wurde.

Den unterschiedlichen Haltungen liegen historisch geprägte Muster zugrunde, wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch „Europadämmerung“ argumentiert: Die westlichen EU-Staaten bemühten sich so gut sie könnten, Diversität in ihren Gesellschaften zu erhalten, während man im Osten ein gänzlich anderes Konzept als gesellschaftlich erstrebenswert sehe.

Geprägt durch Kommunismus und organisatorische Geschlossenheit gebe es in den Staaten Zweifel an Werten wie Offenheit, Vielfalt und der grundlegenden Wichtigkeit persönlicher Freiheiten. Zunächst habe der Osten den Westen nachahmen wollen, doch jetzt versuchten manche Staaten, sich als Gegenmodell darzustellen. Krastevs Fazit: mehr Verständnis zeigen für die jeweils andere Seite – und das alternativlos.

Klare Anzeichen

Doch diese Unterschiedlichkeit wirkt sich insbesondere in den letzten Jahren auf die Positionen mancher EU-Mitglieder innerhalb der Union aus – gleich mehrere Länder taten sich in dieser Rolle hervor. Während etwa zuletzt Ungarn mit einer Plakatkampagne gegen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verstörte und sich der Aufnahme von Flüchtlingen fast ausnahmslos verwehrte, gelten Polen, Rumänien und wiederum Ungarn als beständige Problemfälle in Sachen Rechtsstaatlichkeit.

Juncker-Soros-Plakat in Budapest
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Die Regierung von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban fuhr eine Kampagne gegen Juncker und den US-Milliardär George Soros

Modell der Geschwindigkeiten

Doch abgesehen von nicht EU-rechtskonformen Abweichungen gibt es schon seit Langem ein Modell, das der Unterschiedlichkeit Rechnung trägt. Dabei geht es darum, dass eine Gruppe von Mitgliedsstaaten eine verstärkte Integration auf der Ebene der EU-Verträge anstrebt. Andere, weniger integrationswillige Staaten lehnen dem Konzept zufolge eine weitreichende Zusammenarbeit (etwa in den Bereichen Währungs- oder Verteidigungspolitik) ab.

Vorschläge eines Europas der zwei Geschwindigkeiten innerhalb der EG (Europäische Gemeinschaft) bzw. EU gehen auf die 1980er Jahre zurück und wurden seitdem bei den verschiedenen Reformen des EU-Vertrags schon öfter thematisiert. Umgesetzt wurden sie im Zuge des Schengener Abkommens, der Wirtschafts- und Währungsunion und des Abkommens über die Sozialpolitik, an denen jeweils nicht alle EU-Mitgliedsstaaten beteiligt sind bzw. waren.

„Lokomotive des Wachstums für ganz Europa“

Mit der Aufnahme Estlands, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens, Ungarns und Zyperns im Jahr 2004 wuchs die EU von 15 auf 25 Mitglieder. Statt 380 Millionen hatte sie über Nacht 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Doch kann die Ernüchterung in den „neueren“ Mitgliedsstaaten nicht entlang der wirtschaftlichen Gegebenheiten verlaufen – schließlich ging es den Staaten wirtschaftlich noch nie so gut.

Und das ist den Staaten auch bewusst, wie ein Statement von Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki unlängst zeigte. „Wir sind heute die Lokomotive des Wirtschaftswachstums für ganz Europa“, sagte Morawiecki am 1. Mai in Warschau nach einem Treffen der neueren EU-Mitgliedsländer. „Es lohnt, das hervorzuheben, denn manchmal glauben einige zu Unrecht, dass die Länder in Mittel- und Osteuropa so etwas wie der kleine Bruder sind.“

„Wir geben mindestens genau so viel“

Der polnische Regierungschef trat der Auffassung entgegen, die neu hinzugekommenen EU-Länder seien hauptsächlich finanzielle Nutznießer der Mitgliedschaft. „Wir sind dankbar für das, was wir von der EU bekommen haben, aber wir möchten betonen, dass wir mindestens genauso viel geben.“ Die Öffnung der Märkte in Ost- und Südosteuropa habe es großen westlichen Unternehmen ermöglicht, ihre Produktion zu steigern.

Anti-EU-Demonstration in Polen
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Eine Demonstration gegen die EU in Warschau Anfang Mai

Anders die Darstellung von EU-Vizekommissionspräsident Jyrki Katainen: Polen dürfe die EU nicht länger als Gelddruckmaschine behandeln. „Die EU ist nicht nur eine Geldmaschine, eine Kuh, die man melken kann“, so Katainen. Man erwarte einen substanziellen Beitrag für die Zukunft Europas. Die Wirtschaftsentwicklung des Landes sei dank der EU-Mitgliedschaft und der dadurch geflossenen Fördermittel über 100 Mrd. Euro bemerkenswert.

Ein klassisches Kritikmuster der letzten Jahre betrifft Lebensmittel – von „Doppelstandards“ ist die Rede. Der Vorwurf: Viele Firmen böten ihre Produkte in östlichen Ländern mit schlechterer Qualität und oftmals anderer Zusammensetzung an. Auch steht in die Kritik, dass es in Bauwirtschaft und Logistikwesen diverse Hindernisse für osteuropäische Unternehmer gebe.

Frust über unterschiedliches Lohnniveau

Doch der Wohlstand in den östlichen EU-Staaten ist – gemessen am Pro-Kopf-Einkommen – nicht nur in absoluten Zahlen höher als je zuvor, das Niveau schließt auch immer mehr zum EU-Durchschnitt auf. Der größte Frust baut sich wegen der Unterschiedlichkeit der Löhne auf. Und das, obwohl die Produktivität der östlichen Ländern jene der westlichen sehr nahe kommt. Die nominalen Bruttobezüge betragen nur 40 Prozent des EU-Durchschnitts.

Nachvollziehbar also, dass viele Arbeitskräfte in jene Länder abwandern wollen, in denen sie für dieselbe Arbeit mehr Lohn bekommen als in Polen, Ungarn und Co. Ein Vorgang, der wiederum eine Dynamik in den Herkunftsländern in Gang setzte: Wegen des Mangels an Arbeitskräften konnten Lohnerhöhungen durchgesetzt werden. Konzerne tragen dieser Entwicklung Rechnung und errichten neue Werke in günstigeren Ländern der EU bzw. ihren Vorhöfen (Serbien, Türkei).

Hinter solchen Entscheidungen steht nicht zuletzt das Kalkül, dass die westlichen Standorte zu teuer sind und sich nur rechnen, wenn man anderswo weniger bezahlt. Auf diese Weise subventionieren die östlichen Arbeiter ihre westlichen Kollegen, was für schlechte Stimmung sorgt. Alle diese Faktoren tragen die politische Stimmungslage – denn am Ende steht Unterstützung für Parteien, die die demokratischen und rechtsstaatliche Standards der EU torpedieren.

Für Juncker eine Frage der Zeit

Juncker gab sich zuletzt optimistisch: Einige Staaten erlaubten sich „gewisse Spielchen und Verstöße gegen die Regeln“, er glaube aber, dass dieses Problem die EU in ein paar Jahren nicht mehr beschäftigen werde. Staaten, die lange Zeit die aufgezwungenen Regeln einer fremden Großmacht hätten ertragen müssen, brauchten Zeit, um zu verinnerlichen, dass die Rechtsstaatlichkeit ein Grundelement der europäischen Konstruktion sei. Sobald das verstanden werde, würden die Nationen in Mittel- und Osteuropa selbst dafür kämpfen.

Ungarn und Polen überraschend vertrauensvoll

Doch haben nicht etwa die Einwohner der EU-Skeptiker Ungarn und Polen besonders geringes Vertrauen in Brüssel, sondern die der Mit-Gründerländer Frankreich und Italien. Nur jeder Dritte hat dort laut Eurobarometer vom Herbst 2018 „eher Vertrauen“. Ähnlich sieht es in Tschechien und im austrittsbereiten Großbritannien aus.

Schlusslicht ist das von der Finanz- und der Flüchtlingskrise stark getroffene Griechenland. Hier glaubt nur jeder Vierte an die EU. Die meiste Zuversicht haben die Ostsee-Anrainerstaaten Litauen, Dänemark und Schweden. Hier vertrauen fast zwei Drittel der Bewohner auf die Gemeinschaft. Österreich liegt mit 45 Prozent im Mittelfeld.