Teilnehmer des ESC 2019
Eurovision/Thomas Hanses
Song Contest startet

Liebe und Hass, Latex und Tracht

Während die österreichische Teilnehmerin Paenda noch bis Donnerstag auf ihren großen Auftritt warten muss, startet am Dienstag das erste Semifinale des Song Contests in Tel Aviv. Und alle dort hineingelosten Acts sind schon einmal Glückspilze: Das zweite Semifinale ist weitaus stärker besetzt. So gibt es vor allem was fürs – oder vielmehr – aufs Auge, allen voran die isländische SM-Band Hatari mit einer eindeutig mehrdeutigen Hassnummer.

Das Trio geht mit dem Titel „Hatrid mun sigra“ („Der Hass wird siegen“) in den Bewerb – und hat sehr gute Chancen, einen der zehn Finalplätze am Samstag gegen die 16 Mitbewerber zu ergattern. In guter Tradition der slowenischen Band Laibach heißt es „Subversion durch Affirmation“, man gibt das Böse, um es als solches zu entlarven.

Hatari gehen dabei nicht zimperlich vor, sondern – auch auf der Bühne – eher mit dem Vorschlaghammer. „Der Hass wird siegen, Europa wird zusammenbrechen, die Liebe wird sterben“ singen Klemens Hannigan und Matthias Haraldsson im SM-Outfit aus Latex, Masken und Ketten. Und dabei geht ihr technoider Song zwischen Rammstein-Gebrüll in der Strophe und zartem Falsett-Refrain a la Bronski Beat oder Erasure durchaus ins Ohr.

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Die isländischen Hatari schenken sich auch bei ihrer Performance nichts

Provokation auf ganzer Linie

Dass sie es mit der Provokation durchaus ernst nehmen, zeigt auch, dass sie in Israel mit politischen Aussagen nicht geizen. Trotz des strengen Politikverbots wird spekuliert, dass sie auf der Bühne Statements zur israelischen Politik abgeben. Schon im Vorfeld lud das Team den rechtskonservativen israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu zu einem traditionellen Glima-Ringkampf ein, um politische Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Ein Finaleinzug gilt als praktisch fix, vor einigen Wochen sprachen einige Song-Contest-Blogger schon von einem möglichen Lordi-Effekt: 2006 hatte die vollkostümierte finnische Metalband den Bewerb ja gewonnen.

Zypern versucht „Fuego 2.0“, Australien will hoch hinaus

Wenn Tamta aus Zypern den Bewerb mit Startnummer eins eröffnen wird, könnte man fast glauben, es wird ein einschlägiger Themenabend, tritt sie doch ebenfalls in mehr oder weniger vollständiger Latexmontur auf. Auch ihr werden gute Finalchancen eingeräumt, schließlich versucht Zypern den zweiten Platz des Vorjahrs von Eleni Foureira zu wiederholen. Für eine 2.0-Version des Hits „Fuego“ dürfte „Replay“ aber zu wenig zünden.

Durchaus opulent dürfte sich der Auftritt der griechischen Teilnehmerin Katerine Duska gestalten, die ebenfalls als Finalkandidatin gehandelt wird. Stimmlich im eher raueren Bereich angesiedelt, hat ihr „Better Love“ zumindest einen erkennbaren Refrain, das ist schon fast eine Bank im ersten Semifinale.

Auf jeden Fall auffallend präsentiert sich heuer Australien mit Kate Miller-Heidke, die sich für ihre opereske Nummer „Zero Gravity“ auf eine Stange schnallen lässt. Mit entsprechender Kostümierung wird das dann ein wenig nach gepfählter Eisprinzessin aussehen. Und weil seitlich hinten zwei dunkel gewandete Tänzerin mitgepfählt werden, könnte das Kreuzigungssettung auch durchaus die religiösen Gefühle mancher Zuseherinnen und Zuseher auf die Probe stellen.

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Auch ein einprägsamer Auftritt kann beim Punkten helfen: Australien setzt auf Popera und schwingende Sängerinnen

Ironie oder Kunst oder?

Überhaupt dürften im Laufe des Abends recht viele und sehr große innere Fragezeichen beim Publikum entstehen. Etwa bei der Performance des Portugiesen Conan Osiris, dessen Mischung aus Fado und arabeskem Avantgardejazz nicht nur akustisch schwere Kost sein sollte.

Irgendwie gespenstisch wirkt auch das polnische Trachtenquartett Tulia mit ihrem „weißen Gesang“, einem traditionellen Schreigesang, aus dem sich dann eine durchaus wiederkennbare Melodie formt. Ob das Ganze ironisch gemeint sein soll oder doch zur Fraktion Blut und Boden gehört, man weiß es nicht.

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Die Polinnen hinterlassen mit der Performance zu „Fire of Love (Pali sie)“ einige Fragezeichen

Harmlos, aber happy

Gleich mehrere Teilnehmerländer versuchen in diesem Jahr ihr Glück mit einer unverhohlen oberflächlichen Mischung aus harmlos und happy. In den Wettquoten des Bewerbs liegen sie alle ganz am unteren Ende der Skala. Recht deutlich wird das beim montenegrinischen Beitrag „Heaven“, der von der gemischtgeschlechtlichen Gruppe D-Mol präsentiert wird – probenbeobachtende Blogger sprechen von „Desaster“ und „Schulaufführung“.

Hinweis

Das Semifinale ist ab 21.00 Uhr live in ORF1 und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen. Vom Teletwitter-Team ausgewählte Tweets mit #ESCORF werden während der TV-Übertragungen auf der Teletext-Seite 780 eingeblendet. ORF.at begleitet den Bewerb mit einem Liveticker – samt Bildern, animierten GIFs und Social-Media-Kommentaren – mehr dazu in tv.ORF.at.

Direkt von einer solchen weg könnte die weißrussische Kandidatin Zena engagiert worden sein. Die 16-Jährige ist in ihrer Heimat als Schauspielerin, Sängerin und Moderatorin bekannt und tritt mit „Like It“, einer inhaltlich völlig belanglosen Up-tempo-Popnummer, an.

Wieder am Start: Serhat, der Zahnarzt

Dass Einreichungen dieses Genres keine Frage des Alters sind, beweist allerdings im ersten Semifinale auch Serhat aus San Marino, der schon 2016 beim Song Contest antrat und den Finaleinzug verpasste. Mit mittlerweile 54 Jahren und dem Beitrag „Say Na Na Na“ setzt der ehemalige Zahnarzt noch einmal auf eine Feel-good-Nummer, wieder dürfte es damit nicht für einen Aufstieg reichen.

Bessere Chancen hat eindeutig Tschechien, wo man ebenfalls versucht, so nahe wie möglich an der Erfolgsformel des Vorjahres zu bleiben. Die Indie-Band Lake Malawi mit Frontman Albert Cerny und dem Song „Friend of a Friend“ ist heuer für den beschwingten Radiopop zuständig.

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Bunt und fröhlich: die tschechische Indie-Band Lake Malawi

Posterboy und Star-DJ

Finnland versucht sein Glück mit der Mischung aus Star-DJ Darude und dem singendem Soap-Schauspieler Sebastian Rejman. Die ernste Botschaft ihres Songs – es geht recht generell um Probleme der Welt – haben die beiden in einen Dance-Track mit dem Titel „Look Away“ gepackt, dessen Ideenarmut dem bisher recht erfolglosen Song-Contest-Land nur wenig Hoffnung auf eine gute Platzierung lässt.

Und auch Estland muss zittern – und der schwedische Ex-Eishockeyspieler Victor Crone gleich mit. In seiner Heimat wurde er mehrfach als Song-Contest-Teilnehmer abgelehnt, beim estnischen Vorentscheid konnte er aber offenbar überzeugen. Der Song „Storm“ stammt aus der Feder von Stig Rästa, der beim Song Contest 2015 gemeinsam mit Elina Born auf dem siebenten Platz im Finale landete – wo Crone wenn dann nur wegen der wirklich schwachen Konkurrenz einziehen wird.

Belgiens depressive Jugend

Belgien wiederholt seit einigen Jahren überraschend oft den Versuch, mit sehr jungen, sehr blassen, depressiv anmutenden Künstlerinnen und Künstlern zu punkten. Aktuell mit dem 18-jährigen Schüler Eliot und seinem Song „Wake Up“. Geschrieben hat den Song Pierre Dumoulin, dessen 2017er-Beitrag „City Lights“ im Nachhinein zum Radio-Charthit avancierte, was im Wesentlichen auf den eingängigen Refrain zurückzuführen war – der „Wake Up“ allerdings fehlt.

Stichwort Depression: Der sehr ruhige slowenische Beitrag „Sebi“, gesungen vom Duo Zala Kralj und Gasper Santl, spaltet die Song-Contest-Blogger in zwei Extreme. Während die einen von „magischen Momenten“ und „Gänsehautfeeling“ berichten, sind die drei Minuten des Songs für andere gefühlt ein halbes Leben. Für diejenigen, die zusätzlich den slowenischen Text verstehen, ist es noch dazu ein sehr trauriges Leben – bei Textzeilen wie „Ich bin wie eine Schneeflocke, die darauf wartet, dass der Frühling kommt“.

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Slowenien: Die einen nennen es fad, die anderen unglaublich gefühlvoll

Ethnoballaden mit großer Dramatik

Eine Song-Contest-Schiene, die in jedem Jahr bedient werden will, hat auch heuer schon im ersten Semifinale seinen Platz: osteuropäische Ethno-Klänge. Mit Joci Papai für Ungarn ist dabei ein alter Song-Contest-Bekannter im Rennen – er erreichte schon 2017 den achten Platz. Seine melancholische Ballade „Az en apam“ ist eine puristische Liebeserklärung an seinen Vater, die in den Vorabberichten durchaus positiv bewertet wird.

Auf Serbien ist Verlass, was die Balkanballade angeht. Heuer präsentiert diese Nevena Bozovic, die ihre geigengetragene Nummer „Kruna“ mit E-Gitarren auffetten ließ und mit gefährlich anmutendem Silberschmuck gemeinsam mit dramatischen Visuals ganz dick aufträgt.

Auf ein ähnliches Rezept in der männlichen Version setzt Georgien: Oto Nemsadzes „Keep on Going“ – trotz englischen Titels georgisch gesungen – steigert sich in ganz gewaltiges Drama, und zum eindringlichen „Varaada varada, varada vara hee“-Refrain kommen brennende Bergketten auf die LED-Wand, die dem gesungenen „Wunsch nach einem Ende von Kriegen und Konflikten“ Nachdruck verleihen wollen.

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Patriotscher Pazifismus auf Georgisch

Die Ausgangslage im ersten Semifinale ist also spannend: kaum Favoriten, aber trotzdem zehn zu vergebende Finalplätze – auf Überraschungen darf man also gefasst sein.