Leïla Slimani
Catherine Hélie/Editions Gallimard
Leila Slimani

Lust, Zwang und Einsamkeit

Leila Slimani, marokkanisch-französische Autorin und Prix-Goncourt-Preisträgerin 2016, hat einen Blick für Tabus: War es im prämierten Buch ein Kindesmord, wird jetzt ihr Debüt um Nymphomanie nachgereicht: „All das zu verlieren“ erzählt, wie eine Mittdreißigerin ihr häusliches Idyll aufs Spiel setzt – für Sex mit jedem und überall.

Bret Easton Ellis tut es, Jonathan Littell auch, Michel Houellebecq sowieso: schreiben über die düsteren und schmutzigen Seiten der Sexualität. Das Genre hat Tradition. Seit Marquis de Sade oder George Bataille kennt man die literarische Erkundung abgründiger Spielarten durch männliche Autoren, mit männlichen Protagonisten.

Längst sind es nicht nur Schriftsteller, die sich diesbezüglich hervortun: Für Aufregung sorgte etwa Catherine Millet, die mit „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ 2001 ein Protokoll einer hedonistischen Selbstbefreiung vorlegte, oder Virginie Despentes, die Anfang des Jahrtausends mit ihrer splattermäßigen Mord- und Sexorgie „Baise-Moi“ für Aufsehen sorgte – und das schon lange vor der Vernon-Subutex-Reihe.

Und da ist Slimani, die mit „All das zu verlieren“ noch einmal ganz andere Töne anschlägt – mit einer Erzählung zwischen Lust, Einsamkeit und Zwang, wie man sie wohl selten zu lesen bekommt. „Ich wollte über eine Frau schreiben, die eine Antiheldin ist, eine Lügnerin, eine schlechte Mutter, eine Art dunkle Person“, erzählt Slimani im ORF.at-Interview.

Strauss-Kahn-Skandal als Inspiration

Alkoholismus oder Drogensucht erschienen ihr thematisch abgearbeitet. Der 2011 aufkochende Skandal um den früheren Chef des Internationalen Währungsfonds und Präsidentschaftskandidaten Dominique Strauss-Kahn habe schließlich, so die Autorin, den thematischen Ausschlag für ihr Debüt gegeben, das fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung nun auch auf Deutsch erschienen ist: Die Geschichte einer sexsüchtigen Protagonistin.

Buchcover „All das zu verlieren“
ORF.at/Roland Winkler
Slimani erzählt im Roman die Geschichte einer sexsüchtigen Protagonistin

Sexsucht, so lautete damals die Rechtfertigung Strauss-Kahns, dem versuchte Vergewaltigung, Freiheitsentzug und sexuelle Belästigung angelastet wurden. Das Thema wurde zum Dauerbrenner in den französischen Medien und begann auch Slimani zu interessieren, wenn auch gänzlich anders gelagert. Machtmissbrauch ist hier kein Thema. Stattdessen im Blick: eine facettenreiche Vermessung dessen, was man vermeintlich unter sexueller Freiheit versteht.

„Puppe im Garten eines Ungeheuers sein“

„Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden. Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Ungeheuers sein.“ So formuliert es Adele, Mitte 30, Journalistin, in Gedanken, als sie in der Früh unter der Dusche steht, in ihrer schicken Wohnung im 18. Pariser Arrondissement.

Buchhinweis

Leila Slimani: All das zu verlieren. Luchterhand Literaturverlag, 224 Seiten, 22,70 Euro

Ihr kleiner Sohn und ihr gutgläubiger Mann schlafen noch, während Adele, auf dem Weg zu ihrem Job schon wieder von weiteren sexuellen Abenteuern träumt. An den Straßenecken, im Swingerclub, mit dem Kollegen ihres Mannes. Am liebsten kühl, hart, erniedrigend. Warum, weiß sie nicht genau, nur dass dann „die Beklemmung verfliegt“, ihr „Herz leichter, ihr Geist leer“ wird – und dass sie es wieder tun wird. Die rasende Angst, ihre Lügen könnten irgendwann auffliegen, halten sie trotz aller „guten Vorsätze“ nicht davon ab.

Auf den Spuren von Madame Bovary

„All das zu verlieren“ sei eine gegenwärtige, wilde Version von „Madame Bovary“, wie Slimani im Interview erklärt: Auch Adele ist im bürgerlichen Setting zu Hause, mit einem Arzt als Ehemann. Auch sie begehrt auf und muss schließlich, wie Emma, in der für sie sterbenslangweiligen Provinz der Normandie wohnen. Während Gustave Flauberts Heldin aber von romantischer Sehnsucht angetrieben ist, ist bei Adele nichts mehr davon übrig: Sex ist für sie das scheinbar paradoxe Versprechen von Selbstermächtigung durch Selbsterniedrigung.

Leïla Slimani
Catherine Hélie/Editions Gallimard
Slimani: „Worum es mir ging, ist, die Sexszenen in einem klinischeren Licht erscheinen zu lassen. Ohne den ganzen Glamour.“

„Es ging ihr nicht um den Körper, sondern um die Situation. Das orgiastische Zucken vorspielen, die Begierde, die Lust. Einen Mann weggehen sehen, dessen Nägel mit Blut und Sperma verschmiert sind.“ Kühl protokollarisch, hart und doch berührend erzählt Slimani die Geschichte einer Frau, mit ganz eigenem Ton. „Am Anfang war das technisch sehr schwierig“, sagt sie. „Wenn es um Sex geht, verfügen wir nur über das Vokabular der Pornografie oder des Erotizismus. Worum es mir ging, ist, die Sexszenen in einem klinischeren Licht erscheinen zu lassen. Ohne den ganzen Glamour.“

Nüchtern erscheint vor allem das Drumherum. Für Adele gleicht ihr Leben einem Korsett, der Job ödet sie an, die Liebe zu ihrem Sohn „findet keine Zeit für sich“, der seltene Sex mit ihrem Ehemann hinterlässt eine tiefe Leere. Slimani lässt keine Zweifel daran, dass ihre Protagonistin, bei all den Freiheiten, die sie sich nimmt, eine Geplagte ist: rücksichtslos egomanisch und zugleich Opfer ihrer selbst.

Buch als „Metapher für die marokkanische Sexualität“

1981 in Marokko geboren, kam Slimani 1999 nach Paris, wo sie als Schriftstellerin reüssierte und 2016 mit „Dann schlaf auch du“ den renommierten Prix Goncourt erhielt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die französische Kritik schon daran gewöhnt, dass es bei Slimani mitunter härter zuging. Als zwei Jahre zuvor „All das zu verlieren“ als Debüt erschienen war, hatte man sich noch erstaunt gezeigt, dass eine junge Frau mit Maghreb-Herkunft so schonungslos über Sex schreibt, wozu Slimani im Essay-Band „Sex und Lügen“ 2017 theoretisches Unterfutter lieferte.

„Ich würde sogar behaupten, es ist kein Zufall, dass gerade ich eine Figur wie Adele erschaffen habe. Adele ist in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen“, hieß es da. In Marokko sind Sex vor der Ehe, Abtreibungen und Homosexualität verboten. Marokkaner sind zugleich große Pornokonsumenten, und der Regelbruch ist vorprogrammiert: „Eine schizophrene Situation“, sagt Slimani, beeilt sich aber hinzuzufügen, dass „die Verknüpfung von Sexualität mit Lüge, Scham und Angst“ nicht auf den arabischen Raum beschränkt sei. Die der Psychodynamik zugrunde liegende Misogynie sei „vielleicht das Universellste auf der ganzen Welt.“

Lüge, Angst und Scham, aber auch Lust, Unverfrorenheit und Emanzipation: „All das zu verlieren“ ist eine aufreibende Geschichte, die fesselt und zugleich bedrückt. Die „systematische Härte des Verfassers“, die Flaubert bei „Madame Bovary“ zugerechnet wurde, gilt auch für Slimani. Wer eine gewisse Ungemütlichkeit nicht scheut, für den ist hier aber Lohnendes zu finden: Nebst einem packenden Sound eine Figur voller Widersprüchlichkeiten, die hier zum Glück der Leserinnen und Leser nicht ausgebügelt werden.