Scrabble-Steine formen Parteikürzel
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„Ibiza-Skandal“ und Neuwahl

Parteien vor strategischen Spagaten

Seit Freitagabend ist in der heimischen Innenpolitik kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Mit der Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“ ist nicht nur die ÖVP-FPÖ-Regierung praktisch zerbrochen. Binnen weniger Stunden mussten sich sämtliche Parteien nicht nur zum Video, sondern auch zur bevorstehenden Neuwahl völlig neu strategisch positionieren. Den Anfang machte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der mit seiner Rede am Samstagabend auch gleich den Wahlkampf eröffnete.

Kurz kündigte in seiner mehrmals verschobenen Stellungnahme nicht nur die Koalition auf und sprach sich für eine vorgezogene Wahl aus. Gleichzeitig lobte er die bisherige Arbeit der Regierung und warb auch gleich um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler – zwischen den Zeilen vor allem um jene der FPÖ.

„Nur wenn die Volkspartei, nur wenn wir nach der Wahl die Möglichkeit haben, auch wirklich eindeutig den Ton anzugeben, dann können wir die Veränderung, die wir begonnen haben, auch zu Ende bringen und fortsetzen“, sagte Kurz. Und weiter: „Ich darf alle Menschen in Österreich einladen, die mit dem Kurs, den wir die letzten Jahre eingeleitet haben, mit diesem Kurs zufrieden sind, dass sie uns bei den Wahlen unterstützen.“

Statement von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zur Regierungskrise

Kurz sprach sich am Samstagabend für eine vorgezogene Wahl zum schnellstmöglichen Zeitpunkt aus.

ÖVP will Neuwahl nützen

Welche Parole parteiintern ausgegeben wurde, zeigte sich ganz deutlich, als Kanzleramtsminister Gernot Blümel (ÖVP) am Sonntagabend sowohl in der ZIB2 als auch in der ORF-Diskussionssendung „Im Zentrum“ mehrmals die Botschaft wiederholte: Man wolle die gute Arbeit fortsetzen, insbesondere den „Kampf gegen illegale Migration“ – und da sei Kurz bei der nächsten Wahl der richtige Ansprechpartner.

Die Strategie der ÖVP scheint klar: Man will aus der Wahl im Herbst ganz klar gestärkt hervorgehen – wie seinerzeit ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel nach dem Zusammenbrechen der damaligen schwarz-blauen Koalition 2002. Von einer „Absoluten“ kann die ÖVP wohl nur träumen, vielleicht geht es sich aber bei einem entsprechenden Erfolg aus, eine kleinere Partei, etwa NEOS, ins Boot zu holen.

Blümel im ZIB2-Interview

Dass die ÖVP Innennminister Hebert Kickl (FPÖ) aus der Regierungsverantwortung entlassen will, verkündete ÖVP-Minister Gernot Blümel in der ZIB2.

Parteienfinanzierung als Thema auf dem Tapet

Einige Unwägbarkeiten drohen für die ÖVP allerdings: Zunächst muss sich die Partei den Vorwurf gefallen lassen, die FPÖ trotz aller Warnungen in die Koalition geholt zu haben. Auch die Beteuerungen während der Regierungszeit, die Koalitionsparteien hätten ein so gutes Gesprächsklima und eine stabile Vertrauensbasis, machen eine Abgrenzung von den Freiheitlichen schwieriger.

Möglicherweise muss sich die ÖVP aber in den nächsten Wochen und Monaten noch mit den Inhalten des „Ibiza-Videos“ herumschlagen: Die Aussagen von Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zur Finanzierung seiner Partei durch prominente Geldgeber betrafen ja nicht nur die FPÖ.

Erste kritische Fragen musste sich die ÖVP schon gefallen lassen, da verwies man auf die Offenlegung per Homepage und die Übermittlung an den Rechnungshof. Ein großes Fragezeichen steht auch hinter den Aussagen sowohl von Strache als auch von Kurz über „schmutzige Gerüchte“ über den Bundeskanzler – und hinter der Frage, was denn in dem stundenlangen Videomaterial, das nicht veröffentlicht wurde, noch zu sehen sein könnte.

„Silberstein“ taucht wieder auf

Eindeutig in Richtung Wahlkampf ist jedenfalls zu werten, dass Kurz schon während seines ersten Statements das Wort „Silberstein“ fallen ließ: Die Methoden des Videos würden „klarerweise schon eindeutig an Tal Silberstein erinnern“, sagte Kurz. Dafür habe er „leider keine Beweise“, sagte er der „Kronen Zeitung“.

Der im Wahlkampf 2017 von der SPÖ engagierte Spin-Doktor Tal Silberstein und seine Dirty-Campaigning-Methoden waren vor der Wahl das bestimmende Thema – und mit ein Grund dafür, dass der damalige SPÖ-Kanzler Christian Kern im Wahlkampf kaum aus der Defensive kam. Auch in mehreren Interviews spekulierte Kurz darüber, dass das Ibiza-Material noch aus Silbersteins Arbeit stammen könnte. Dass die ÖVP damit dem Wahlkampf-Spin von 2017 zumindest ein bisschen wiederholen will, scheint offensichtlich.

FPÖ sieht sich in der Opferrolle

Auch der scheidende FPÖ-Vizekanzler Strache hatte in seiner Rücktrittsrede am Samstag Silberstein gleich mehrmals erwähnt. Dass er zudem von einem „gezielten politischen Attentat“ sprach und „ausländische Geheimdienste“ verdächtigte, zeigte eindeutig Straches Strategie: Er gerierte sich als Opfer seiner politischen Gegner.

Erklärung von Vizekanzler Heinz-Christian Strache

Vizekanzler Strache gab am Samstag bei einer Pressekonferenz seinen Rücktritt bekannt.

Und ein Teil der FPÖ-Vorgehensweise der nächsten Wochen wird wohl auch sein, das illegale Zustandekommen des Videos und die Spekulationen über die Macher auszuschlachten. Das alleine wird aber nicht reichen – und die Partei scheint auch zu wissen, dass sie mehrere Spagate zu bewältigen hat.

Abgrenzung von Strache und Gudenus

Zunächst versucht sich die Partei inhaltlich von den Aussagen Straches und des Ex-Klubchefs Johann Gudenus zu distanzieren und sie in gewohnter Manier als „Einzelfälle“ darzustellen. Von „menschlichen Fehlern“ ist die Rede, schwierig ist die Frage, wie sehr sich die Partei auch von der Person Strache abgrenzen muss. Eine Person, die die Partei 14 Jahre geführt hat, kann man wohl nicht einfach fallenlassen. Bei Gudenus, der ja auch die Kontakte zur angeblichen Oligarchennichte hergestellt und sich auch noch weiter mit den Lockvögeln getroffen hatte, fiel das offenbar leichter. Er musste die Partei verlassen.

Hofer und Kickl mit verteilten Rollen

Einen Vorgeschmack auf die weitere Vorgangsweise der FPÖ bot die Presseerklärung von Neoparteichef Norbert Hofer und Innenminister Herbert Kickl am Montag. Hofer präsentierte sich mehr als sanft. Er lobte die gemeinsame Regierungsarbeit mit der ÖVP: „Es tut mir sehr leid, wir hätten wirklich gerne weitergemacht.“ Er bedankte sich bei allen Ministern und schmeichelte auch den Medien. Auch für einen „Schmutzkübelwahlkampf“ will der designierte FPÖ-Chef nicht zur Verfügung stehen, wie er betonte.

Presseerklärung nach dem FPÖ-Präsidium

Nach dem FPÖ-Parteipräsidium gaben der designierte Bundesparteiobmann Norbert Hofer und Innenminister Herbert Kickl eine Presseerklärung ab.

Kickl ging hingegen in die Offensive – auch und insbesondere gegen die ÖVP. Am Samstag habe man sich zuerst nur auf den Rückzug von Strache und Gudenus geeinigt, doch dann sei plötzlich seine Person infrage gestanden. „Es ist der Versuch, die eigene Macht innerhalb der Regierung auszubauen“, so Kickl. Die freiheitlichen Minister hätten in ihren Ressorts die Knochenarbeit geleistet und den Kurs der Regierung geprägt, er selbst die Asyl- und Zuwanderungspolitik. Damit heften sich beide Koalitionsparteien die restriktive Migrationspolitik als ihr Verdienst an die Fahnen.

Droht ein Rosenkrieg?

Kickl warf der ÖVP „kalte und nüchterne Machtbesoffenheit“ vor. Dass die ÖVP das Innenressort auf keinen Fall mit einem FPÖ-Politiker besetzen will, sei für ihn ein „Rückfall in die Untiefen der ÖVP-Machtpolitik, die dieses Land so viele Jahre gelähmt gehalten hat“. Solche Worte legen nah, dass der Wahlkampf durchaus zu einer Art Rosenkrieg zwischen ÖVP und FPÖ werden könnte – womöglich mit aus der Zusammenarbeit der vergangenen Monate gut gefüllten Giftschränken.

Ebenfalls bereits sichtbar ist der Versuch beider Parteien, einander für die Neuwahl verantwortlich zu machen. Auffallend war bei den Pressestatements am Montag auch, dass weder Kurz noch Hofer und Kickl genauere Angaben machten, wie es nun mit den FPÖ-Ministern weitergehe. Zumindest zwischen den Zeilen bediente Kickl auch die kursierenden Gerüchte, wonach die ÖVP schon länger mit einer Neuwahl im Herbst liebäugle. Dass Kickl am Dienstag ankündigte, Kurz das Misstrauen auszusprechen, deutet auf eine harte Konfrontation hin.

SPÖ beendet FPÖ-Kooperationen

Vorerst eher noch in der Zuseherrolle ist die Opposition: Für die SPÖ kommt die Neuwahl früher als erwartet. Die schwierige Frage, wie man sich zur FPÖ positioniert, ist zunächst vom Tisch. Dementsprechend beschloss man auch, die Kooperationen mit der FPÖ zu beenden. Im Burgenland beschloss der rot-blaue Koalitionsausschuss, die Landtagswahl vom Mai vorzuverlegen – allerdings wird erst am 26. Jänner 2020 gewählt. In Linz kündigte SPÖ-Bürgermeister Klaus Luger das Arbeitsübereinkommen mit der Linzer FPÖ – nach entsprechender Ankündigung von Bundesparteichefin Pamela Rendi-Wagner.

Rendi-Wagner wurde noch am Sonntag vom Parteipräsidium zur Spitzen- und Kanzlerkandidatin gekürt – wohl auch um Personaldebatten und Querschüsse für die nächsten Wochen zu unterbinden. In ihren Statements betonte Rendi-Wagner die Schlagworte Aufklärung, Stabilität, Ehrlichkeit und Anstand. Die SPÖ agiere aber weiter weit unter ihrem Potenzial und zeige recht wenig, heißt es in vielen Kommentaren. Ob die Partei also für einen Wahlkampf schon gerüstet ist, wird sich weisen.

Runder Tisch

Über den „Ibiza“-Skandal und die Folgen diskutieren Petra Stuiber („Der Standard“), Rainer Nowak („Die Presse“), Andreas Koller („Salzburger Nachrichten“) und Martina Salomon („Kurier“).

Schwierige Positionierung für NEOS und Jetzt

NEOS hatte bereits am Freitagabend bei Bekanntwerden des Videos eine Neuwahl gefordert. Parteichefin Beate Meinl-Reisinger pocht seitdem darauf, dass auch die ÖVP ihre Parteifinanzierung offenlegt. Für Meinl-Reisinger ist es der erste Wahlkampf nach dem Rücktritt von Vorgänger Matthias Strolz. Wie sich die Partei, die mehr als andere als potenzieller Juniorkoalitionspartner der ÖVP gilt, im Sommer positioniert, wird auch vom Ausgang der EU-Wahl abhängen.

Die Liste Jetzt kündigte einen Misstrauensantrag gegen Kurz bei der Sondersitzung des Nationalrates an – und brachte den Kanzler damit unter Druck. Für die Partei und Listengründer Peter Pilz kommt die Neuwahl nicht unbedingt gelegen. Nach den Turbulenzen rund um Pilz konnte die Partei – zumindest laut Umfragen – nie richtig Fuß fassen und muss in den nächsten Monaten deutlich zulegen, um weiter im Parlament vertreten zu sein. Pilz wird wohl versuchen, alle Register als Aufdecker zu ziehen. Zudem wird es wohl wieder Versuche geben, Jetzt und Grüne wiederzuvereinen: Pilz startete bereits einen entsprechenden Vorstoß.

Comeback der Grünen?

Auf ein Parlamentscomeback früher als erwartet hoffen wohl die Grünen. Ganz einfach wird es aber für die Partei nicht: Mit dem Abschied aus dem Nationalrat gibt es deutlich weniger Geld für den Wahlkampf. Zudem ist fraglich, mit welchen Personen die Partei in den Wahlkampf geht. Parteichef Werner Kogler ist Spitzenkandidat der EU-Wahl, geht er tatsächlich ins EU-Parlament, stehen schwierige Personaldebatten an – mit kaum bekannten Köpfen.

Völlig in den Hintergrund geriet dieser Tage die EU-Wahl am Sonntag. Abgesehen von ihrer europäischen Bedeutung werden die Ergebnisse für die Parteien bestenfalls eine Momentaufnahme und Standortbestimmung sein. Bis zur Wahl im Herbst kann noch einiges passieren – das haben die vergangenen Tage eindeutig gezeigt.