„Wir betreten Neuland“

Viele offene Fragen zu Expertenregierung

Nachdem am Dienstag fast alle FPÖ-Minister entlassen worden sind, sind nun alle frei werdenden Positionen mit Expertinnen und Experten besetzt. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will damit die Stabilität im Land wiederherstellen. Doch wie stabil und handlungsfähig ist eine Expertenregierung wirklich? Von einem „Gang auf rohen Eiern“ ist die Rede.

„Wir betreten in diesen Tagen Neuland“, sagte Bundespräsident Van der Bellen am Dienstag vor Journalisten und Journalistinnen. Es gebe aber keinen Grund besorgt zu sein, denn „gerade in Zeiten wie diesen zeigt sich die Eleganz und Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung“. Jeder Schritt, der jetzt getan werde, sei vorgesehen und in der Verfassung verankert, kommentierte Van der Bellen die Einführung einer Expertenregierung – die es so in der Geschichte der Zweiten Republik noch nie gab.

Denn selbst wenn in der Vergangenheit Neuwahlen ausgerufen wurden, blieben die Politiker und Politikerinnen immer im Amt, bis eine neue Regierung angelobt wurde. Bei der Neubesetzung gelten jedoch die gleichen Regeln wie auch sonst bei der Bestellung der Bundesregierung: Der amtierende Bundeskanzler schlägt dem Bundespräsidenten Personen vor, die dann vom Präsidenten geprüft werden. Wenn der Bundespräsident mit diesen Vorschlägen einverstanden ist, werden die entsprechende Ernennungen vorgenommen.

Grafik zeigt Minister der gescheiterten Kurz-Regierung
Grafik: APA/APA/Neue Volkspartei/Jakob Glaser

Gleiche Rechte und Pflichten wie „normale“ Regierung

Der Verfassungsexperte Bernd-Christian Funk verwies in der ZIB in der Nacht auf Dienstag darauf, dass auch eine nur vorübergehende Bundesregierung im Prinzip die gleichen Rechte und Pflichten habe wie eine beständige und auf längere Zeit ausgelegte. Im Grunde genommen solle sie aber nur „die Lücke füllen“ zwischen dem Amtsende der alten und dem Amtsbeginn einer neuen Regierung. Die Regulative einer Expertenregierung seien dabei einerseits gefestigt genug, um ein sinnvolles Arbeiten zu ermöglichen, anderseits aber auch flexibel genug, um politische Entscheidungen zu tragen, zeigte sich Funk überzeugt.

Ex-Bundespräsident Fischer in der ZIB2

Fischer beschrieb die derzeitige Situation in Österreich nicht als Staatskrise, die Lage ist ihm zufolge jedoch alles andere als stabil. Er schließt aus, selbst Kanzler in einer Übergangsregierung zu sein.

Und obwohl eine Expertenregierung nur ein paar Monate im Amt ist, habe sie laut Alt-Bundespräsident Heinz Fischer „genug zu tun“. Es gehe etwa darum, die Nationalratswahl ordentlich über die Bühne zu bringen, laufende Beschlüsse zu fassen, allenfalls auch erste Vorbereitungen für einen nächsten Staatshaushalt zu treffen und zur Beruhigung des politischen Klimas beizutragen, sagte Fischer in der ZIB2 am Montag.

Fischer: Expertenregierung kein Garant für Stabilität

Sowohl der Bundeskanzler als auch der Bundespräsident argumentierten die Umstellung auf eine Expertenregierung mit der Aufrechterhaltung der Stabilität und der Funktionsfähigkeit des Staates. Eine neue Expertenregierung sei jedoch noch lange kein Garant für Stabilität und werfe automatisch die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Regierung auf, sagte Fischer.

Heinz Fischer
APA/Helmut Fohringer
Fischer zeigt sich im Hinblick auf ihre Handlungsfähigkeit gegenüber einer Expertenregierung skeptisch

Das Schwierigste an der Situation ist laut Fischer, dass die ÖVP-Regierung, wenn sie anstelle der FPÖ-Minister mit Experten und Expertinnen bestückt wird, keine Mehrheit im Nationalrat hat. Derzeit stellt die ÖVP 61 der 183 Nationalratsabgeordneten und hat somit 122 nicht auf ihrer Seite. Damit eine Regierung arbeiten kann, braucht sie aber eine Mehrheit – und wenn das nicht der Fall ist, dann gebe es „genau das, was der Kanzler nicht will und der Präsident auch nicht, nämlich instabile Verhältnisse“, so der Politikberater Thomas Hofer am Dienstag im Ö1-Mittagsjournal.

Es wird also darauf ankommen, ob die gewählten Expertinnen und Experten auch das Vertrauen der anderen Parteien genießen. Das könnte man freilich mit Gesprächen im Vorfeld auch sondieren. Genau das dürfte Kanzler Kurz aber nicht gemacht haben – kritisierte zumindest SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.

Grafik zeigt die Sitzverteilung im Nationalrat
Grafik: ORF.at; Quelle: Parlament

„Gang auf rohen Eiern“

Eine weitere Problematik der momentanen Situation könnte sein, dass die Parteien im Nationalrat wie schon wiederholt die Möglichkeit freier Mehrheiten für das Verteilen von Wahlzuckerln nutzen könnten. Deren Finanzierung würde dann auf eine künftige Bundesregierung abgewälzt werden. Van der Bellen appellierte daher an alle Fraktionen im Parlament, "die Übergangsregierung ernst zu nehmen und keine Beschlüsse zu fällen, die viel Geld kosten“.

Fischer regte an, im Parlament zu vereinbaren, dass bis zur Wahl keine Gesetze mit langfristigen finanziellen Folgen beschlossen werden, da eine Übergangsregierung dem nichts entgegensetzen könnte. Funk sprach dabei von einem „Gang auf rohen Eiern“, da sich alle Parteien im Wahlkampf befinden und diese Situation natürlich auch zu nutzen versuchen würden.

Hans Bürger (ORF) analysiert die Situation

Der ORF-Innenpolitikchef über die Handlungsfähigkeit einer Expertenregierung und die Verlockung für einzelne Parteien, in der Übergangszeit kostspielige „Wahlzuckerl“ zu verteilen.

Auch der ORF-Innenpolitikchef Hans Bürger warnte vor einer solchen Situation. Wenn die angekündigte Steuerreform nun doch nicht komme, bleibe viel Geld übrig. Parteien könnten demnach versuchen, das Geld über die Österreicher und Österreicherinnen zu schütten und diese so für sich zu gewinnen. Dabei handle es sich um einen „Geldregen, den sich Österreich nicht leisten sollte“, sondern den die neue Regierung tatsächlich in eine Steuerreform investieren solle.

Auflösung des Nationalrats

Um potenziell teure Gesetze zu vermeiden, könnte die neue Regierung dem Bundespräsidenten vorschlagen, die Gesetzgebungsperiode vorzeitig zu beenden und den Nationalrat aufzulösen. Heinz Fischer rät aber davon ab: „Das macht man wirklich nur im Fall einer Staatskrise“, schließlich wäre dann für dringende Gesetzesbeschlüsse kein handlungsfähiger Nationalrat vorhanden.

Druck auf Parteien durch Expertenkabinett

Der Wiener Politikwissenschafter Wolfgang Müller gibt einer Expertenregierung indes durchaus Chancen, die nach der „Ibiza-Affäre“ geforderten politischen Reformen anzustoßen. „Eine Expertenregierung kann vor allem Druck auf die Parteien aufbauen, dass sie sinnvollen Reformen zustimmen“, sagte Müller am Dienstag im APA-Interview mit Blick etwa auf die Parteienfinanzierung. Es sei es möglich, dass sich die Parteien eher auf eine Expertenregierung verständigen können als auf eine Parteienregierung „ihres Konkurrenten“, so Müller.

Der Universitätsprofessor nannte das Beispiel Italien, das zahlreiche Erfahrungen mit Expertenkabinetten hat. „Die Regierung Ciampi war eine der besten Regierungen, die Italien je hatte“, verwies er auf den späteren Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi, der von April 1993 bis Mai 1994 italienischer Premier war. „Es waren Regierungen, die im Parlament eine Unterstützung hatten, aber keine wahlpolitischen Überlegungen hatten“, charakterisierte sie Müller.

Expertenregierung in Italien

In Italien hat sich gezeigt: Eine Expertenregierung kann funktionieren – aber nur, wenn das Parlament kooperiert.

„Experten haben keine demokratische Legitimation“

Obwohl Expertenregierungen in anderen Ländern Europas öfter vorkommen, ließen sich Erfahrungen nicht auf Österreich „ummünzen“, meinte hingegen Funk: „Ich habe da meine Zweifel, weil in Österreich herrschen traditionell andere Beziehungen zwischen Parlament, Regierung und Bundespräsident.“ Auch Hofer gab sich skeptisch, er sehe in einer Expertenregierung „nichts Erstrebenswertes“ und fühle sich eher an Italien und Griechenland in Krisenzeiten erinnert.

Ähnlich sieht das auch Werner Zögernitz. „Beamte und Experten haben keine demokratische Legitimation. Der Wähler würde sich verschaukelt fühlen“, so der frühere ÖVP-Klubdirektor und Leiter des Instituts für Parlamentarismus und Demokratiefragen. Hinzu komme die internationale Dimension. „Wenn ein Beamter oder Experte bei Ministerräten der EU auftritt, wird er sicher nicht dasselbe Gehör finden wie ein von der Bevölkerung legitimierter Politiker“, warnte Zögernitz.

Misstrauensantrag gegen Kurz

Am Montag wird sich zudem entscheiden, ob Kurz mit einem Misstrauensvotum konfrontiert wird und ob es, so wie von der SPÖ-Vorsitzenden Rendi-Wagner gefordert, zu einem Austausch aller Ministerposten und zu einem reinen Expertenkabinett kommen wird. Dann wäre die gesamte Regierung inklusive Bundeskanzler abgewählt, und der Bundespräsident müsste eine neue Person mit der Regierungsbildung beauftragen.

„Diese Person müsste dann ihr Kabinett zusammenstellen, dem Bundespräsidenten vorschlagen, und der Bundespräsident müsste dann die Entscheidung treffen, ob er dieses Kabinett ernennen will“, erklärte Fischer die Vorgangsweise. Konkrete Vorschriften gebe es dabei nicht, es müsse sich lediglich um einen wahlberechtigten Erwachsenen handeln. Fischer betonte allerdings, dass es sich um eine „erfahrene Persönlichkeit“ handeln müsse, die auch im Nationalrat eine Mehrheit gewinnen könnte.

Van der Bellen glaubt an Übergangsregierung

Doch ob es zu solch einer Entwicklung kommt, ist laut Zögernitz derzeit noch unklar. „Die Frage ist, ob die Parteien staatspolitisch oder parteipolitisch entschieden. Wenn sie parteipolitisch agieren, wird es einen Misstrauensantrag geben.“ Und weiter: „Vielleicht erkennt man aber auch: Die Demokratie ist uns viel zu schade, als dass wir sie demolieren.“

Trotz eines möglichen Misstrauensantrags gegen Kurz setzt Van der Bellen auf die Übergangsregierung: „Ich denke heute an keinen Plan B.“, sagte er am Dienstag. Er glaube, dass die Parlamentsparteien ihr Vorgehen sehr sorgsam abwägen würden. So gehe er davon aus, dass die Übergangsregierung im Amt bleibe. Selbst im Falle eines Misstrauensvotums könnte Kurz am kommenden Dienstag noch geschäftsführend als Kanzler zum EU-Gipfel reisen.