Flaggen vor dem Europaparlament
Reuters/Arnd Wiegmann
Nach „Ibiza-Skandal“

EU-Wahl als Stimmungstest

Am Sonntag findet in Europa das große Wahlfinale statt: Neben Österreicherinnen und Österreichern sind die Bürgerinnen und Bürger 20 weiterer EU-Länder zur Stimmabgabe aufgerufen. Nach dem „Ibiza-Video“, dem darauffolgenden Zusammenbruch der Regierung und der Neuwahlankündigung könnte die EU-Wahl diesmal unerwartet spannend werden – nicht nur für Österreich.

Die Wahl zum Europaparlament ist „die größte grenzüberschreitende Wahl auf dem Planeten und eine Chance, über unsere Zukunft zu entscheiden“, sagte die EU-Kommission im Vorfeld. Über 400 Millionen Menschen in 28 Mitgliedsstaaten können 751 neue EU-Abgeordnete bestimmen.

Den Auftakt zur viertägigen Wahl machten am Donnerstag die Niederländer und die Briten, die trotz Brexit-Entscheidung noch einmal mitstimmen mussten. Tags darauf wählten die Iren und Tschechen, am Samstag Lettland, Malta und die Slowakei und am Sonntag alle restlichen EU-Länder.

„Ibiza-Skandal“ wirft Schatten auf Europaparlament

In Österreich öffneten die ersten Wahllokale bereits um 6.30 Uhr, bis spätestens 17.00 haben die 6,4 Millionen Wählerinnen und Wähler hierzulande Zeit, um ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung dürfte aber auch diesmal niedrig ausfallen – 2014 lag sie mit 45,4 Prozent nur leicht über dem EU-Durchschnitt. Laut Meinungsforschern ist die Wahrscheinlichkeit zudem sehr hoch, dass diesmal vor allem FPÖ-Wähler zu Hause bleiben.

Heinz-Christian Strache
AP/Michael Gruber
Die Geschehnisse der vergangenen Woche werden laut Experten „auf jeden Fall einen Effekt“ auf die EU-Wahl haben

Doch wie genau sich das durch das „Ibiza-Video“ ausgelöste innenpolitische Erdbeben auf die EU-Wahl auswirkt, lässt sich Meinungsforschern zufolge kaum abschätzen. Klar sei aber, dass die Geschehnisse der vergangenen Woche „auf jeden Fall einen Effekt“ auf die Wahl in Österreich haben werden, zeigt sich etwa der politische Analyst Cornelius Hirsch überzeugt.

Ähnlich sieht das OGM-Chef Wolfgang Bachmayer. Die EU-Wahl werde von den aktuellen Ereignissen „ziemlich überschattet“. Da es die erste Wahl „nach diesem Skandal“ ist, hält er es jedoch sogar für möglich, dass die Wahlbeteiligung steigen könnte. Ebenso gut könnte sie aber auch sinken, weil die Wählerinnen und Wähler frustriert und verunsichert seien.

„Testwahl für die Nationalratswahl“

Bachmayer geht aber davon aus, dass die ÖVP jetzt „kurzfristig betrachtet“ deutliche Chancen auf ein besseres Abschneiden – bereits bei der EU-Wahl – habe. Ebenso könnte die Opposition davon profitieren. Bei der FPÖ sei die Ausgangslage auch für die EU-Wahl wohl schlechter geworden – seien ihre Wähler ohnehin bekannt EU-Wahl-faul. Dass eine „Jetzt erst recht“-Stimmung – wie sie die FPÖ mit Slogans zu schüren versucht – entsteht, sei eher zu bezweifeln.

Der EU-Wahl könnte auch eine neue Bedeutung zukommen: Als „Testwahl für die Nationalratswahl“ im September. Hierbei könne sie etwa das Kernwählerpotenzial der FPÖ offenbaren, also den Anteil jener Österreicher, die der Partei trotz Skandalen treu bleiben, meint Hirsch. Allerdings, so betonen alle Meinungsforscher unisono, würden aussagekräftige Umfragen fehlen.

Plenarsaal im Europäisches Parlament
AP/Jean-Francois Badias
Bei der Wahl zum Europaparlament können über 400 Millionen Menschen 751 neue EU-Abgeordnete bestimmen

Videoveröffentlichung kurz vor EU-Wahl wirft Fragen auf

Dass die „Ibiza-Videos“ kurz vor der EU-Wahl veröffentlicht wurden, führte in den vergangenen Tagen zu der von vielen vertretenen, aber unbestätigten Theorie, dass dadurch die gesamteuropäische Rechte geschwächt werden sollte. Doch auch hier gehen, was die tatsächlichen außenpolitischen Auswirkungen des „Ibiza-Skandals“ betrifft, die Meinungen auseinander.

Erste Ergebnisse

Die erste Hochrechnung des Parlaments wird um 23.00 Uhr veröffentlicht. Mit dem offizielle Endergebnis wird in der Nacht auf Montag gegen 1.15 Uhr gerechnet. Die Briefwahl wird am Montag ausgezählt, das Vorzugsstimmenergebnis wird die Bundeswahlbehörde Dienstag oder Mittwoch bekanntgeben. Am Dienstag besprechen die EU-Staats- und -Regierungsspitzen bei einem informellen EU-Rat das weitere Vorgehen.

Hirsch etwa erachtet den Einfluss als „relativ gering“, da andere rechtspopulistische Parteien versuchen würden, den Skandal als „österreichisches Einzelproblem“ darzustellen. Das könnte allerdings schwierig werden, zumal sowohl die Alternative für Deutschland (AfD) als auch die französische RN (Rassemblement National) selbst wegen dubioser Wahlkampfspenden und Veruntreuung öffentlicher Gelder bereits unter Druck stehen.

Neu antretende Parteien entscheidend

Auch wenn es der FPÖ vermutlich nicht mehr gelingen könnte, wie bisher prognostiziert, fünf Mandate im künftigen EU-Parlament zu stellen, dürfte die Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), der die FPÖ bisher angehört, laut dem Experten aber weiterhin eine Mandatsstärke von rund 70 Sitzen erreichen.

Ausschlaggebender als die Stimmenverluste der FPÖ sei nämlich, wie viele der neuen neuen, zum ersten Mal antretenden Parteien aus anderen Ländern sich der EU-kritischen EKR-Fraktion (Europäische Konservativen und Reformer) oder der Allianz des italienischen Innenministers und Rechtspopulisten Matteo Salvini anschließen würden.

„Schicksalswahl“ der Proeuropäer gegen Europagegner

Der frühere deutsche Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz (SPD), hingegen rechnet sehr wohl mit einem Effekt des „Ibiza-Skandals“ auf die Europawahl. Das gelte sowohl für die FPÖ als auch für die AfD unter Führung von Jörg Meuthen und Salvinis rechtsradikale Lega. „Ich denke, dass die Wählerinnen und Wähler am kommenden Sonntag jetzt noch deutlicher sehen, wen sie da vor sich haben, wenn sie Leute wie Strache, Salvini oder Meuthen auf dem Wahlzettel haben“, sagte der frühere SPD-Chef. Die Affäre Strache stehe „symbolisch für die Verantwortungslosigkeit von rechtspopulistischen Parteien in Regierungen“.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach von einer Schicksalswahl der Proeuropäer gegen die Europagegner. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel betonte indes, dass Patriotismus und die Europäische Union keine Gegensätze seien und warb für den EVP-Spitzenkandidaten, der ankündigte, gegen jene zu kämpfen, die Europa zerstören wollen. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen sprach sich gegen „Kleinstaaterei“ und „alte Grenzen“ aus, denn „die riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, kann kein Land alleine lösen“, sagte Van der Bellen in seinem Wahlaufruf.

Europäisches Parlament
AP/Jean-Francois Badias
Rechtspopulisten können im Parlament auf starke Zuwächse hoffen

Zuwächse für Rechtspopulisten erwartet

Dennoch: Rechtspopulisten können bei der EU-Wahl auf Zuwächse hoffen, während Christdemokraten und Sozialdemokraten im Vergleich zur Wahl 2014 jedoch deutliche Verluste befürchten. Nach einer Projektion des Portals Politico könnte die neue nationalistische Allianz Salvinis mit 74 Sitzen Platz vier erreichen; die ebenfalls EU-kritische Fraktion EKR hätte weitere 57 Sitze. Die EVP (Europäische Volkspartei) mit ihrem Spitzenkandidaten Manfred Weber käme im Parlament auf 171 Mandate, die Sozialdemokraten mit Frans Timmermans auf 144.

Grafik zu Sitzen im EU-Parlament
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU-Parlament

Die Liberalen kämen zusammen mit der Partei LREM (La Republique en Marche) des französischen Präsidenten Macron auf 107 Mandate. Schlusslicht bilden die Grünen mit 56 und die Linke mit 51 Mandaten. Hauptfolge des erwarteten Wahlausgangs dürfte sein, dass Christ- und Sozialdemokraten im EU-Parlament zusammen keine Mehrheit mehr haben, sondern mit Liberalen, Grünen oder Linken zusammenarbeiten müssen.