Überwachungsdiktatur, allwissende Maschinen oder Smart Homes, die plötzlich Herrschaftsfantasien entwickeln: Dass literarische Digitalisierungsdystopien derzeit boomen, spiegelt sich im echten Leben wider. Mit Gesichtserkennung, Sprachassistenten oder selbstfahrenden Fahrzeugen sind die Einsatzgebiete künstlicher Intelligenz riesig – und dass es bald noch viel mehr und vor allem noch viel Ausgeklügelteres davon geben wird, versprechen nicht zuletzt die Milliardeninvestitionen von Amazon, Apple, Microsoft, Facebook und Google. Der Forschungsetat der „Big Five“ ist im KI-Bereich fast so hoch wie jener der gesamten USA im zivilen Sektor.
Ist künstliche Intelligenz demokratisch? Kann sie genauso verantwortungsvoll oder gar verantwortungsvoller als der Mensch sein? Solchen brisanten Fragen stellt sich die diesjährige Vienna-Biennale-Hauptausstellung im MAK, die den aktuellen Biennale-Übertitel „Schöne neue Werte“ aufgreift und mit „Uncanny Values“ ins Abgründige dreht: Hinter dem Titel steht die Vorstellung, dass selbst lernende Maschinen umso unheimlicher sind, je ähnlicher sie uns sind – und das Problem, dass gemeinsame Werte zwischen Mensch und Maschine nicht im Vorhinein ausgemacht sind, wie es im Pressetext sinngemäß heißt.
Schimpfende Chatbots und historische Artefakte
Dass es eine „Kulturausstellung“ und keine rein künstlerische Ausstellung geworden ist, liegt laut Kurator Paul Feigelfeld am „Aufklärungsbedarf, den es auf dem Gebiet gibt“, wie er im ORF.at-Interview sagt. Fürchten muss man sich angesichts der Zukunftsaussichten hier nicht, genaues Hinschauen ist aber empfohlen. Dabei helfen soll eine gute Portion Ars-Electronica-Flair, mit der es durch die 18 futuristisch-kühl designten Stationen geht.
Besonders verspielt und interaktiv ist der Abschnitt „Natural Language Processing“, wo ein Reihe von Chatbots zur Kommunikation einladen – oder besser gesagt zu Kommunikationsversuchen. „Talk to me“ von Jonas Lund (2017) verdreht die Freundlichkeit von Siri und Co. ins Gegenteil und schleudert auf ein unverfängliches „Hello“ schon einmal ein „That’s it, leave!“ zurück.
Der „Urahn“ der Chatbots
Was das hier vom großen Linzer Medienkunstfestival unterscheidet, sind mit Simon Denny oder Trevor Paglen wichtige zeitgenössische Kunstpositionen und ein ursprünglich größer angedachter, aufgrund der hohen Versicherungssummen nur begrenzt verwirklichter kulturhistorischer Zugang: Mit „Eliza“ (1964–66) konnte immerhin die „Urahnin“ aller Chatbots nach Wien geholt werden. Der vom Computerpionier Joseph Weizenbaum und seinem Team entwickelte therapeutische Chatbot hatte seine Macher damals höchst erstaunt, weil er tatsächlich zu stundenlangen Gesprächen genutzt wurde – ein Faktum, das, so Feigelfeld, viel über unsere „Sentimentalitäten gegenüber der Technik“ aussage.
Eliza wirkt heute natürlich veraltet, und ist damit nicht allein: Auch David Links „PoetryMachine“, der erste vollautonome Poesie-Generator von 2001, und der sich eher stumm präsentierende Chatbot „DiNA“ von Lynn Hershman Leeson (2000–2006) zeigen, dass man im KI-Bereich schon nach knapp 20 Jahren ganz schön alt aussehen kann.
„Machine Learning“ für Überwachung und Nachhaltigkeit
„Machine Learning“, also IT-Systemen beizubringen, Muster zu erkennen und daraus Lösungen zu entwickeln, heißt das Zauberwort, um das sich damals wie heute so vieles dreht: Davon zeugen die Emojis des Designbüros „Process Studio“, die es hier als Sticker zum Mitnehmen gibt. Aber auch ernsthaftere Arbeiten haben „tiefgehendes Lernen“ von Maschinen zum Thema: Trevor Paglens Video kompiliert Bildmaterial, das KI-Systeme vorgesetzt bekommen, um menschliche Gesichter richtig lesen zu können – ein Überwachungstool.
Die positiven Effekte von „Machine Learning“ – wie KI zum Beispiel Nachhaltigkeit unterstützen kann – zeigt hingegen die aufwendige Installation des Trios Tega Brain, Julian Oliver und Bengt Sjölen namens „Asunder“ (2019), die anhand von Satelliten-, Klima-, Geologie-, Biodiversitäts- oder Bevölkerungsdaten radikale Umweltmanagementpläne ausspuckt. Der konkrete Vorschlag, der gerade präsentiert wird, ist die Verlagerung eines rohstoffreichen Gebiets direkt in die Nachbarschaft von Silicon Valley. Ein so brachiales „Länderverschieben“ ist natürlich rein hypothetisch, ähnliche KI-Managementsysteme würden, so Feigelfeld, aber bereits eingesetzt.
„Asunder“ ist vielleicht die Vienna-Biennale-Brückenarbeit überhaupt, weil sie mit „Klimawandel, Digitalisierung und soziale Nachhaltigkeit“ auch das Themendreigespann umfasst, das sich das Festival heuer vorgenommen hat. Thematisch weit, vielleicht auch etwas zu weit gefasst, auch wenn zweifelsohne wieder wichtige Zukunftsfragen angegangen werden, mit neun Ausstellungen, einer Konferenz und zahlreichen weiteren Projekten – noch bis Oktober.
„Hysterical Mining“ in der Kunsthalle
Bei aller Affinität am wenigsten technoeuphorisch ist die zweite Hauptausstellung „Hysterical Mining“ in der Wiener Kunsthalle: Anhand von 25 Arbeiten beleuchtet die von Vanessa Joan Müller und Anne Faucheret kuratierte Schau gelungen Technologie und Digitalisierung aus feministischer Sicht. „Wann immer etwas über Digitalisierung und Artificial Intelligence erzählt wird, müssen wir uns als Nichtexpertinnen mit dem Status der passiven Konsumentinnen zufriedengeben“, erklärt Müller im ORF.at-Gespräch, was am aktuellen Diskurs stört. „Die Künstlerinnen der Ausstellung ignorieren ihre eigentliche Fachfremdheit und beschäftigen sich trotzdem damit.“
Als „Ausstellungsarchitektur“ hat man das Kunsthallen-Erdgeschoß mit einem Teppich überzogen, in Blau, wie bei der Film- und Fernsehtechnik „Blue Screen“. Diese hat den Effekt, Distanzen auszuhebeln – ein stimmiges Bild zur Digitalisierung. Während sich die Kunsthalle in der Vergangenheit oft den Vorwurf gefallen lassen musste, österreichische Kunstschaffende zu ignorieren, holt man sie hier vor den Vorhang – mit zwei Drittel Ausstellungsbeteiligung.
Der „hysterische Chor“
Neben Veronika Eberhart und Marlene Maier ist auch die aus Salzburg stammende Marlies Pöschl mit einem Video vertreten. Mit „Auore“ stellt sie eine virtuelle Betreuungsassistentin vor, die in einem Pflegeheim der Zukunft mit alten Menschen interagiert. Kein kühler Operator, sondern ein einfühlsames System erinnert hier an die Tabletteneinnahme und fragt nach dem Verhältnis zur Tochter. Auf die Frage, ob die alte Frau gerne wie Aurore wäre, ist die Antwort aber ein fast entrüstetes Nein – zu groß ist dann doch der Unterschied zum Menschen.
Das dominierende Bewegtbild wird von künstlerischen Darstellungsformen ergänzt, die der Digitalisierung anachronistisch zu Leibe rücken, etwa Keramiken von Barbara Kapusta oder Zeichnungen von Louise Druhle. Den Sound zur Ausstellung liefert Delphine Reist mit Sägen, Bohrern und Schleifmaschinen, die, nur von Plexiglas abgehalten, in einem Regal auf- und abtoben: Als „hysterischer Chor“ gibt die Installation vielleicht ein stimmiges Bild für den Hysteriebegriff ab, den die Kuratorinnen mit „Hysterical Mining“ verstanden wissen wollen: Die angebliche Überreiztheit ist nichts weniger als ein selbstbewusstes Lautwerden, das durch die Etage hallt.