Ausschreitungen am Tiananmen-Platz 1989
AP/Vincent Yu
Tiananmen-Massaker

Wie Chinas Führung sich neu ordnete

Zum 30. Jahrestag der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung in China am Dienstag werden erstmals Protokolle einer Dringlichkeitssitzung des KP-Politbüros wenige Tage nach dem blutigen Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz bekannt. Sie zeigen, wie sich die kommunistische Führung neu ordnete und damals jenen Kurs einschlug, der bis heute die Politik des Landes bestimmt. Und das mit Erfolg, wie auch einer der Freiheitskämpfer von 1989 einräumt.

Hunderte, möglicherweise Tausende, Menschen starben am 4. Juni und den nachfolgenden Tagen, als die chinesische Führung die landesweiten Massenproteste für mehr Demokratie rücksichtslos mit Panzern niederrollte – zum Symbol für diese Auseinandersetzung wurde der „Tank Man“, jener Menschenrechtler, der sich einer Kolonne von Panzern auf dem zentralen Tiananmen-Platz in Peking, dem Platz des Himmlischen Friedens, in den Weg stellte.

In Europa begann praktisch gleichzeitig der Fall des Eisernen Vorhangs und läutete damit das Ende des Sowjetregimes ein – am 27. Juni startete mit der symbolischen Durchtrennung des Grenzzauns an der ungarisch-österreichischen Grenze eine unaufhaltsame revolutionäre Entwicklung. Chinas Führung dagegen war mit der blutigen Niederschlagung der Proteste im eigenen Land – neben Peking gab es in Dutzenden anderen Städten Proteste und Demonstrationen – erfolgreich. Die Ereignisse und Entscheidungen von damals prägen bis heute China.

Geheime Protokolle von Politbüro-Treffen

Rund zwei Wochen nachdem der damalige Staatschef Deng Xiaoping das Militär gegen die friedlichen Demonstranten einsetzte, kam es zu einem Treffen der obersten KP-Führung – inklusive der bereits pensionierten, aber höchst einflussreichen Ex-Mitglieder. Ziel war es, die Parteikader auf eine einheitliche Linie einzuschwören und sicherzustellen, dass all Dengs Entscheidung, das Militär einzusetzen, unterstützen. Erstmals kann die interne Debatte nun nachvollzogen werden. Das Politmagazin „Foreign Affairs“ konnte die Dokumente, die in Hongkong von New Century Press veröffentlicht werden, bereits vorab einsehen.

Fotostrecke mit 10 Bildern

Chinesischer Zivilisst steht vor einer Reihe von Panzern am Tiananmen-Platz 1989
AP
Aus Trauerkundgebungen über den Tod des Reformers Hu Yaobang werden im April 1989 Studenten- und Arbeiterproteste gegen das kommunistische Regime Chinas und dessen mangelnden Reformwillen. Nach sieben Wochen wird die Demokratiebewegung in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni im Zentrum der Hauptstadt Peking von der Armee blutig niedergeschlagen. Jener Mann, der sich einsam den Panzern entgegenstellt, wird als „Tank Man“ weltberühmt. Das Foto wird zur Ikone des Aufstands.
Studenten am Tiananmen-Platz 1989
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Alles beginnt am 5. April 1989: Der zwei Jahre zuvor entmachtete KP-Generalsekretär Hu Yaobang, der als Befürworter eines liberalen Kurses galt, stirbt. Aus spontanen Trauerkundgebungen an Unis entwickelt sich eine Bewegung gegen Korruption, für Pressefreiheit und demokratische Reformen. Zwölf Tage später marschieren Tausende Studierende von den Universitäten zum Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz), wo sie vor dem Denkmal der Volkshelden eine Trauerkundgebung abhalten.
Demonstranten am Tiananmen-Platz 1989
AP/Sadayuki Mikami
Die täglichen Kundgebungen in Peking erfahren Ende April zahlreichen Zulauf, an manchen Tagen sind mehr als 100.000 Menschen versammelt. Das große Polizeiaufgebot hält sich noch zurück, auch als ein Demonstrationszug eine Straßensperre überwindet. Doch die warnenden Zeichen mehren sich. Das KP-Organ „People’s Daily“ veröffentlicht auf der Titelseite den Leitartikel „Es ist notwendig, eine eindeutige Haltung gegenüber den Störungen einzunehmen“.
Demonstranten am Tiananmen-Platz 1989
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Am 13. Mai beginnen Studenten einen Hungerstreik auf dem Tiananmen-Platz
Rettungskräfte und Demonstranten am am Tiananmen-Platz 1989
AP/Sadayuki Mikami
Am 15. Mai trifft der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow – der selbst gerade Reformen und Wandel eingeleitet hat – zu einem Besuch in Peking ein. Gorbatschow gilt in der chinesischen Demokratiebewegung als Hoffnungsträger. Auf den protokollarischen Empfang Gorbatschows vor der Großen Halle des Volkes (dem Sitz des Volkskongresses) auf dem Tiananmen-Platz muss das Regime verzichten.
Demonstranten und Soldaten am Tiananmen-Platz 1989
AFP
17. Mai: Der Ständige Ausschuss des KPCh-Politbüros verfügt unter der Autorität von Deng Xiaoping die Verhängung des Ausnahmezustands. Dennoch greift die Protestbewegung, die sich auch gegen Korruption wendet, auf andere chinesische Millionenstädte über. An diesem und dem folgenden Tag sollen laut Demokratiebewegung in ganz Peking bis zu eine Million Menschen an verschiedenen Orten Kundgebungen abgehalten haben. Daran sollen auch Angehörige der Volksbefreiungsarmee, der Polizei und sogar Parteifunktionäre teilgenommen haben. Nur drei Tage später wird über Teile Pekings, vor allem den inneren Ring um den Platz des Himmlischen Friedens, das Kriegsrecht verhängt.
Panzer fahren in Peking im Jahr 1989
AP/Vincent Yu
23. Mai: Größte Demonstration seit Verhängung des Ausnahmezustands. Etwa eine Million Menschen demonstrieren am Tiananmen und den angrenzenden Boulevards gegen Regierungschef Li Peng. Am 1. Juni führen erste Festnahmen zu einer Radikalisierung der Studenten. Zwei Tage später, 3. Juni: Einheiten der Volksbefreiungsarme setzen sich mit T-59-Kampfpanzern und Schützenpanzern vom Typ 63 als Speerspitze von allen Seiten in Richtung Zentrum in Bewegung. Zuvor hatten staatliche Sender die Bevölkerung davor gewarnt, ihre Häuser zu verlassen.
Panzer am Tiananmen-Platz 1989
AP/Manuel Ceneta
4. Juni: In der Früh erreichen die ersten Panzerfahrzeuge den Tiananmen-Platz, Armee und Bereitschaftspolizei räumen den Platz unter Einsatz von Feuerwaffen, Bajonetten und Schlagstöcken. Menschen werden an den Zufahrtsstraßen von Panzern überrollt. Das Regime gibt die Zahl der Toten später offiziell mit 241 an, die genaue Zahl ist unbekannt. Internationale Organisationen und NGOs gehen im Schnitt von rund 2.500 Toten aus, die Zahl der Verletzten soll in die Tausende gehen.
Ausgebannte Panzer am Tiananmen-Platz 1989
AP/Manuel Ceneta
In Schanghai, Nanking, Guangzhou und anderen Städten dauern die Proteste noch einen Tag an, bevor auch hier Armee und Polizei den Widerstand brechen. Eine Verhaftungswelle beginnt.
Panzer am Tiananmen-Platz 1989
AP/Sadayuki Mikami
Der Tiananmen-Platz wird zum innenpolitischen „Ground Zero“ Chinas. Massive Militärpräsenz verhindert jede demokratische Regung.

De facto handelte es sich um ein Loyalitätsritual gegenüber Deng, wie der Politologe Andrew Nathan betont. Doch zwischen den Zeilen ließen sich die Verwerfungen erahnen. Und die Reden dieser Sondersitzung zeigen, wie sich Chinas Führung nach dem Massaker neu ordnete und Konsequenzen zog, die bis heute das politische Handeln in Peking maßgeblich bestimmen. Es ging darum, dass erstens die KP permanent von inneren und äußeren Feinden belagert werde, zweitens ideologische Disziplin und soziale Kontrolle klaren Vorrang vor Wirtschaftsreformen haben und dass drittens die Partei völlig geschlossen sein müsse, um nicht zu Fall zu kommen.

„Kampf für mehrere Generationen“

In den Manuskripten zeigt sich, dass jene, die Dengs Wirtschaftsreform für zu liberal gehalten hatten, die Niederschlagung begrüßten und jene, die die Reformen unterstützten, sich dem vorgegebenen Kurs unterordneten. Den 17 Reden zufolge, die nun erstmals bekanntwerden, waren alle überzeugt, dass die Demonstranten eigentlich nicht gegen das Regime waren. Sie seien vielmehr „von einer extrem kleinen Zahl böser Leute“ manipuliert worden.

Was geschah auf dem Tiananmen-Platz?

Die Bilder von Panzern in Peking am 4. Juni 1989 sind weltweit bekannt. Doch was geschah an jenem Tag in Chinas Hauptstadt auf dem Tiananmen-Platz?

Der damals 90-jährige Nie Rongzhen, einer der zehn großen Marschälle der Volksbefreiungsarmee, machte bei der Politbürositzung klar: „Die konterrevolutionären Unruhen sind befriedet, aber das bürgerliche Freiheitsdenken ist noch lange nicht eliminiert. Der Kampf an der ideologischen Front wird bitter bleiben. Wir müssen uns auf eine langanhaltende Schlacht einstellen. Wir müssen uns für mehrere Generationen rüsten und für mehrere dutzend Jahre!“

Genau das, so Nathan, habe Chinas KP gemacht und die Schlacht dauere bis heute an. Staatspräsident Xi Jinping verlasse sich auf die Macht, die er in seiner Hand konzentriert hat, wie keiner seit Deng Xiao Ping, um Spaltungen in Partei und Gesellschaft zu verhindern. Bisher mit Erfolg, denn eine Demokratiebewegung wie 1989 ist derzeit wohl undenkbar.

„Mieses Abkommen“

Wu’er Kaixi, einer der Studentenführer von 1989, rechnet im ORF-Interview ebenfalls nicht mit einer neuen Massenbewegung. Das Volk habe letztlich ein „mieses Abkommen“, das das Regime angeboten habe, akzeptiert. Damit sei die politische Selbstbestimmung gegen wirtschaftliche Freiheit abgekauft worden.

Wie sehr die Demokratiebewegung dem Regime trotzdem noch in den Knochen steckt, zeigt, dass zahlreiche Aktivisten und Verwandte von Opfern vor dem Jahrestag festgenommen, unter Hausarrest gesetzt oder an andere Orte weggebracht wurden. Wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtete, wurde auch die Kontrolle von führenden Mitgliedern der „Mütter von Tiananmen“, einem Netzwerk der Familien, deutlich verstärkt.

Zensur läuft auf Hochtouren

In China lief die Zensur vor dem Jahrestag auf Hochtouren. Im Internet beseitigte Software alle Hinweise auf das Blutbad. Wikipedia wurde in allen Sprachen gesperrt. Die Staatssicherheit verschärfte die Überwachung. Die Möglichkeiten der „Mütter von Tiananmen“, mit der Außenwelt zu kommunizieren oder sich frei zu bewegen, seien schwer eingeschränkt worden, berichtete Human Rights Watch. Besonders betroffen seien die 82-jährige Ding Zilin und die 81-jährige Zhang Xianling, deren Söhne 1989 getötet worden waren.

Staatssicherheitsagenten brachten den bekannten Pekinger Bürgerrechtler Hu Jia am Freitag in „zwangsweise Ferien“ in die Hafenstadt Qinhuangdao, wie die Organisation ferner berichtete.

Deng Xiaoping
AP
Deng Xiao Ping ordnete den Militäreinsatz gegen die eigene Bevölkerung an. Er leitete zugleich auch eine Liberalisierung der Wirtschaft ein.

Verordnetes Vergessen

Bereits vor fünf Jahren, zum 25. Jahrestag, hatte Hu Jia betont, die Kommunistische Partei habe Erfolg mit dem verordneten kollektiven Gedächtnisverlust gehabt. „Die Geschichte des 4. Juni 1989 ist aus Schulbüchern und den Leben jener gelöscht, die in den 80er und 90er Jahren geboren sind“, sagte Hu Jia damals. Aus dem „konterrevolutionären Aufstand“ wurden in der Propaganda seither „politische Unruhen“, dann schlicht ein „Zwischenfall“ und zuletzt nur noch ein „heikles Thema“, das besser ganz verschwiegen wird – will man keine Probleme haben.

Eine erschreckende Mehrheit jüngerer Chinesen kennt nicht einmal das ikonische Foto vom „Tank Man“. Das war jener Mann, der allein auf der Straße des Ewigen Friedens eine Kolonne von Panzern aufhielt und zum Symbol des Widerstandes wurde. Selbst Zhao Ziyang, der reformerische Parteichef, der mit den Studenten sympathisierte und immer für eine bessere, freiere Zukunft Chinas stand, ist vielen unbekannt. Nach seinem Sturz stand Zhao Ziyang bis zu seinem Tod 2005 unter Hausarrest – aus dem Gedächtnis des Milliardenvolkes gelöscht.

Bei dem Militäreinsatz gegen friedliche Demonstranten in Peking waren in der Nacht zum 4. Juni 1989 einige hundert Menschen getötet worden. Die genaue Zahl ist bis heute nicht bekannt. Forscher verweisen auch auf Zahlen des chinesischen Roten Kreuzes, das einst 2.600 Tote genannt hatte. Tausende wurden verletzt und inhaftiert.