„Heute ist der Tag, der türkischen Demokratie zuliebe den illegalen Prozess zu korrigieren“, so Imamoglu bei der Stimmabgabe am Sonntag. „Unsere Bürger werden eine Entscheidung für die Demokratie, für Istanbul und die Legitimität künftiger Wahlen treffen.“ Der Wahlkampf sei vorbei, nun entscheide das Volk, sagte Yildirim. Sollte es „verletzte Gefühle“ gegeben haben, sei es an der Zeit, diese beiseite zu lassen.
Der für ein Oppositionsbündnis unter Führung der säkularen Republikanischen Volkspartei (CHP) antretende Imamoglu sorgte am 31. März mit einem knappen Vorsprung von rund 14.000 von insgesamt 8,9 Millionen abgegebenen Stimmen für einen Paukenschlag. Der nächste folgte von Erdogans AKP, die nach einem wochenlangen Hickhack bei der Hohen Wahlkommission der Türkei (YSK) erfolgreich eine Annullierung der Wahl wegen angeblicher „Unregelmäßigkeiten“ durchsetzen konnte.
Erdogan, der von 1994 bis 1998 Oberbürgermeister von Istanbul war, stellte von Anfang an außer Frage, dass es um weit mehr geht als um eine Kommunalwahl. Vielmehr sagte er bereits vor dem ersten Urnengang: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“ Während Erdogan die Annullierung der Wahl als „wichtigen Schritt zur Stärkung unserer Demokratie“ bezeichnete, war von Oppositionsseite von einem besorgniserregendem Zeichen für die Demokratie des Landes die Rede.
Erneut enges Rennen?
Imamoglu kann dennoch weiter auf das höchste Amt in Istanbul hoffen. Darauf verwiesen während des neuerlichen Wahlkampfes immer wieder Umfragen. Demnach sagte das Institut Areda vor rund eineinhalb Wochen etwa einen Imamoglu-Wahlsieg mit rund drei Prozent Vorsprung voraus. Das Meinungsforschungsinstitut Konda prognostizierte am Mittwoch mit einem Vorsprung von 8,1 Prozent auf Yildrim einen noch deutlicheren Imamoglu-Wahlsieg.
In der Zusammenschau boten die Meinungsinstitute dennoch ein gemischtes Bild. Nicht wenige sind politisch motiviert und ihre Ergebnisse sind mit Vorsicht zu nutzen. Diese sahen zwar „ihren“ eigenen Kandidaten vorne, aber dennoch oft nur mit geringem Abstand zum Gegenkandidaten. Es könnte diesen Instituten zufolge wie bei der ersten Wahl am 31. März also wieder knapp ausfallen. Der Umkehrschluss lautet: Erdogan muss weiter um Istanbul zittern.
Aus der AKP heißt es laut dpa, selbst parteiinterne Umfragen zeigten Imamoglu vorne. Beobachter orten hier schließlich auch einen der Hintergründe, warum sich Erdogan anders als im März zunächst aus dem Wahlkampf herausgehalten hat. Das sei Medienberichten zufolge möglicherweise ein Zeichen, dass Erdogan bereits mit einer zweiten Niederlage seiner Partei rechnet und sich davon distanzieren will. Erdogan selbst bezeichnete die Umfrageergebnisse als „vollkommen manipulativ und auf Bestellung gemacht“.
„Können Istanbul nicht diesen Lügnern überlassen“
Ganz in diesem Sinne gab es dazu auch von Erdogan zunächst moderatere Töne zum Stellenwert der Wahl: Es sei „nur“ eine Bürgermeisterwahl. Außerdem habe die AKP eine Mehrheit im Stadtparlament und damit die eigentliche Macht. Wenige Tage vor der Wahl verschärfte Erdogan allerdings wieder deutlich den Ton und sagte in einer Rede in Istanbul, dass man Istanbul nicht „diesen Lügnern“ überlassen könne.
Dem damit angesprochenen Imamoglu warf Erdogan zudem Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor, die von der türkischen Führung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht wird. Zudem wiederholte Erdogan den Vorwurf, dass es bei der Bürgermeisterwahl Ende März „Korruption“ und „Diebstahl“ gegeben habe.
Bei einer weiteren Wahlkampfveranstaltung wunderte sich Erdogan zudem über das große ausländische Interesse an der Istanbul-Wahl und verdächtigte in diesem Zusammenhang „ausländische Kräfte“, bei der Neuwahl des Bürgermeisters die Hände im Spiel zu haben. Dabei warf Erdogan Imamoglu vor, aus dem Ausland und von „Terroristen“ unterstützt zu werden.
Erste TV-Debatte seit 2002
Erdogan hatte vor der Abstimmung Ende März mit bis zu acht Auftritten an einem Tag allerdings von Anfang an weit intensiver Wahlkampf betrieben. Im aktuellen Wahlkampf lag der Fokus auf Yildirim, der sich Imamoglu am Sonntag in einem TV-Duell stellte – das erste seit 2002.
Obwohl die Wahlkommission keine tatsächlichen Manipulationen konstatiert hatte, erneuerte Yildirim bei der landesweit übertragenen, rund dreistündigen TV-Debatte am Sonntagabend unter anderem seinen Vorwurf, die Wahl sei „gestohlen“ worden. Durch wen, sagte der einstige Verkehrsminister und Ministerpräsident auch auf wiederholte Nachfrage nicht.
Imamoglu betonte daraufhin, bei der Wahl gehe es „nicht allein um eine Kommunalwahl“, sondern um den Kampf für die Demokratie. Zudem sei er im ersten Wahlgang zum Bürgermeister gewählt und dann um seine Rechte betrogen worden. Während Yildrim seinen Gegenspieler wiederholt der Lüge bezichtigte, warf Imamoglu der AKP-Stadtregierung unter anderem die Verschwendung von Steuergeldern und fragliche Millionenzahlungen an regierungsnahe Einrichtungen und religiöse Stiftungen vor.
Beobachter auch vom Europarat
Eine offene Frage bei der Wahl bleibt indes, ob beide Seiten diesmal das Ergebnis akzeptieren werden. Dazu komme laut AFP aber auch die Frage, „ob es in der Türkei überhaupt noch einen Machtwechsel durch faire demokratische Wahlen geben kann“. Geht es nach der Bürgerinitiative Oy ve Ötesi sei Wahlbetrug auch in der Türkei nicht so einfach. Ganz im Gegensatz sei der türkische Wahlprozess „besser als sein Ruf“, zumindest „solange es keinen Druck auf die Institutionen gibt“, wie Vereinschef Mustafa Köksalan dazu sagte.
Oy ve Ötesi will eigenen Angaben zufolge mit Tausenden Freiwilligen die Wahl genau beobachten. Auch die Oppositionspartei CHP hat nach eigenen Angaben Tausende Rechtsanwälte verpflichtet, die sich an die Wahlurnen stellen sollen, um die Rechtmäßigkeit des Ablaufs zu garantieren. Auch die AKP kündigte die Entsendung von Wahlbeobachtern an.
Dazu kommen auch internationale Beobachterteams. Bereits vor dem Wahltag reiste eine Delegation des Europarates nach Istanbul, aber auch in die türkische Hauptstadt Ankara, um mit Kandidaten, Diplomaten und Wahlbehörden zu sprechen. Der Europarat mit Sitz in Straßburg wacht mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über die Einhaltung der Menschenrechte in den 47 Mitgliedsstaaten.