Alte Menschen mit iPad
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Telecare und Co.

Die Hürden zur Pflege von morgen

Wenn von Digitalisierung und der Zukunft der Pflege die Rede ist, tauchen zumeist asiatische Pflegeroboter auf. Doch der sinnvolle Einsatz neuer Technologien kann auch viel weniger nach Science-Fiction aussehen, wie Projekte etwa in Skandinavien beweisen: Mit virtuellen Gemeinschaftsessen erzielt man gute Erfolge. In Österreich ist das trotz vieler Pilotprojekte noch Zukunftsmusik, beklagen Expertinnen und Experten – und liefern gegenüber ORF.at auch Gründe dafür.

Die demografische Herausforderung ist in allen westlichen Ländern ähnlich: steigende Lebenserwartung, Überalterung der Gesellschaft und damit ein deutlicher Anstieg an Pflegebedürftigen mit entsprechender Kostenexplosion. Nicht zu Unrecht ist Pflege und deren Finanzierung zuletzt auch in Österreich zu einem großen Politthema geworden.

Einer der Knackpunkte dabei ist die Frage, wie moderne Technologien eingesetzt werden können. Seit Jahren werden Möglichkeiten entwickelt, getestet und dann tatsächlich auch umgesetzt – und das in den verschiedensten Bereichen.

Autonomie im Alter als Ziel

Einig sind sich Experten, dass die Technologie nur eine Unterstützung sein kann: Die soziale, die menschliche Komponente der Pflege lasse sich nicht ersetzen, meint Alexander Hörbst, Professor an der Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik in Hall in Tirol (UMIT), wo er den Forschungsbereich E-Health und Innovation leitet.

Ähnlich sieht das Uli Waibel, Generalsekretär von AAL Austria, einem Verein, der sich die Vernetzung von Projekten, Wissenschaft, Wirtschaft und und Betroffenengruppe zum Ziel gemacht hat. Bei technischen Lösungen gehe es auch nicht nur um Pflege im klassischen Sinn, sondern um Prävention, Mobilität und Sicherheit, so Waibel. Ziel sei es, Menschen so zu unterstützen, dass sie zu Hause ein autonomes und selbstbestimmtes Leben führen können. Ein wesentlicher Faktor sei dabei auch, die Angehörigen einzubeziehen. Diese seien aber schwer fassbar, auch weil sie keine Interessenvertretung haben oder in anderer Art organisiert sind.

Elektronische Dokumentation

Großes Thema sei derzeit auch in Österreich die elektronische Dokumentation, also die Digitalisierung sämtlicher relevanten Daten, so Elisabeth Haslinger-Baumann, die als Professorin am FH Campus Wien für den Forschungsbereich der Angewandten Pflegewissenschaft verantwortlich ist, gegenüber ORF.at. So werde ELGA, der elektronische Gesundheitsakt, auch in Pflegeheimen etabliert, sagt Hörbst.

Tablet
FH Campus Wien
Dokumentation, Notfallmanagement und Vernetzungstools in der 24-Stunden-Pflege kombiniert das FFG-geförderte Projekt 24h QuAALity des FH Campus Wien

Probleme gibt es bei der Umsetzung trotzdem, so die Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes, Ursula Frohner, gegenüber ORF.at. Neben dem administrativen Arbeitsaufwand komme auch immer wieder der Datenschutz in die Quere. Als Beispiel nennt sie die Wunddokumentation, bei der der Heilungsverlauf fotografiert wird und dann auch ohne Hausbesuche kontrolliert werden kann.

Videotelefonie statt Hausbesuch?

Besonderes Sparpotenzial versprechen Telecare-Anwendungen, bei denen das Pflegepersonal per Videotelefonie mit den zu Pflegenden kommuniziert statt sie tatsächlich real zu besuchen. Bei einem entsprechenden Projekt in Helsinki kommunizieren 800 ältere Menschen mit Videotelefonie per Tablet täglich mit ihren Betreuerinnen und Betreuern, berichtet der „Guardian“.

Dabei wird unter anderem geklärt, ob ein realer Pflegebesuch vonnöten ist. Zudem wurde eine Art „virtueller Mittagstisch“ etabliert, bei dem eine Gruppe von zu Pflegenden per Videotelefonie zusammengeschaltet wird. Neben der anregenden Kommunikation kann das Pflegepersonal auch kontrollieren, ob die älteren Menschen ausreichend Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen.

Von einer Kostenersparnis von 90 Prozent im Vergleich zu den früher üblichen persönlichen Besuchen ist die Rede. In entsprechenden Studien wird festgestellt, dass solche und ähnliche Technologien auch dazu beitragen, dass Menschen länger in der eigenen Häuslichkeit verbleiben können.

Großes Potenzial – mit Grenzen

Solche Projekte würden besonders dort sinnvoll sein, wo große räumliche Distanzen bei Hausbesuchen zu überwinden seien, so Pflegeverbandspräsidentin Frohner. Neben Skandinavien seien etwa Australien und Neuseeland Vorreiter. Auch Frohner sieht großes Potenzial in den modernen Kommunikationsmitteln, verweist aber auch auf die Limitationen: Der Einsatz solcher Technologien sei immer eine Frage der Pflegebedürftigkeit, sei diese hoch, könne der persönliche Besuch nicht ersetzt werden. In der Pflege gebe es aber auch die Betreuungsleistung, wo es um Unterstützung im Haushalt und soziale Interaktion gehe, so Frohner. Und dort könnten moderne Kommunikationsmittel helfen.

Zwar gibt es entsprechende Projekte und erste Anwendungen, so werde mit Verwandten von Pflegebedürftigen per Videotelefonie gesprochen, im Wesentlichen hinke Österreich den Entwicklungen aber hinterher.

Sensoren melden Vitalparameter

Haslinger-Baumann, verweist auf das Zukunftsfeld Active and Assisted Living, bei dem im Wesentlichen Sensoren die Pflegeleistungen erheblich erleichtern, weil sie beispielsweise Stürze, Nässe, Medikamenteneinnahme, Flüssigkeitsaufnahme, Vitalparameter aber auch Alltagsaktivitäten wie Herdbenutzung wahrnehmen und an das Pflegepersonal kommunizieren bzw. im Notfall Alarm schlagen.

Die Übergange zwischen Telecare und solchen Systemen der technischen Assistenz sind fließend. So gibt es in Skandinavien Projekte, bei denen Pflegebedürftige selbst Werte wie Blutzucker messen und diese dann per Video mit Pflegepersonal oder auch Ärzten besprechen.

Pilotprojekt zeigte Stärken und Schwächen

Von genau einem solchen Pilotprojekt im Tiroler Außerfern, das auch Videotelefonie einbezog, berichtet Hörbst. Als eines der Probleme im Rahmen des EU-Projekts INTESI habe sich die Einbettung der Technologie in die bisherigen Prozesse und Routinen gezeigt, so Hörbst. Es sei zu Verdoppelungen von Arbeiten und einem entsprechenden Mehraufwand bekommen, sagt der Forscher.

Tablet
Vitamo
Das „Digitale Gesundheitstagebuch“ war eines der Kernstücke des Pilotprojekts im Außerfern

Sobald man sich auf ein solches System, das etwas Vitalwerte kontrolliert, verlassen will, „wird es im Detail dann sehr kompliziert“, so Hörbst: Die Technik müsse als Medizinprodukt zertifiziert werden, müsse ausfallssicher sein und Haftungsfragen müssten geklärt werden. Von den Pflegebedürftigen sei das Projekt aber erstaunlich gut angenommen worden, auch wenn die Bedienung der Technik durchaus eine Herausforderung dargestellt habe.

„Eine Generationenfrage“

Ein Hemmschuh bei modernder Technologie sei, dass die Pflegebedürftigen, aber auch der ältere Teil des Personals zu wenig mit den Technologien vertraut seien, sagt auch Frohner. Sie spricht von einer „Generationenfrage“ auf beiden Seiten. Genau jetzt müssten aber entsprechende Digitalisierungsmaßnahmen einsetzen: Die Pflegebedürftigen von morgen würden schließlich „erwarten“, dass all „jene Technologien zur Verfügung stehen, die sie auch davor im Alltag und im Berufsleben verwendet haben.“

Die Experten berichten demnach auch, dass bei Anwendungen abseits der Alterspflege, etwa bei jüngeren Herzpatienten wie beim Projekt HerzMobil, diese Barrieren eher wegfallen.

Schlechtes Berufsimage wirkt hemmend

Einen Grund dafür, dass Österreich bei der Pflegedigitalisierung Nachzügler ist, sieht Frohner aber auch darin, „wie die Kompetenzen und die Professionalität des Berufsbilds Pflege“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Sie spielt damit darauf an, dass dem Pflegeberuf ein eher schlechtes Image anhängt und die Tätigkeiten und Anforderungen unterschätzt werden. Moderne Technologie hingegen wird eher mit Berufen in Verbindung gebracht, die als anspruchsvoll und prestigeträchtig gelten.

Waibel führt die Wahrnehmung von Altern als Thema an: Jeder wolle alt werden, aber niemand wolle alt sein. Alt sein werde als defizitär angesehen: So werde Tragen eines Notrufarmbands von Menschen oft als stigmatisierend empfunden. Als Beispiel schildert Waibel die Reaktion einer sehr betagten Frau, der eine voll technisch ausgerüstete Wohnung für Senioren gezeigt wurde: „Das ist ja alles sehr gut und schön – wenn ich das später irgendwann einmal brauchen werde.“

Usability als großes Thema

Und bei technischen Hilfen seien vor allem in den frühen Applikationen die Bedürfnisse im Alltag zu wenig berücksichtigt worden, sagt Frohner – insbesondere die „visuellen und manuellen Einschränkungen von Pflegebedürftigen“: So seien „winzige Buchstaben auf Handydisplays“ gerade für ältere Menschen praktisch nicht zu entziffern. Hörbst konstatiert in einigen Fällen auch einen „Angstfaktor“, was die Interaktion schwieriger mache.

Von Usability-Problemen spricht auch Haslinger-Baumann von der FH Campus Wien. In der Anfangszeit seien Techniker federführend für innovative Produkte gewesen, an ihrer FH habe man das umgedreht: Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler würden bei der Leitung die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer in den Vordergrund stellen. Es gehe darum, möglichst niederschwellig die Tools in den Alltag zu integrieren.

Schwierige Finanzierung

Probleme sieht sie vor allem bei der Finanzierung, sinnvolle Projekte würden zwar entwickelt, dann fehle es aber an Geld, um den Markteintritt zu schaffen. Mit entsprechender Drittmittelförderung sei etwa an der FH ein intelligenter Trinkbecher entwickelt worden, der überwacht, dass zu Pflegende ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen. Mit der Produkteinwicklung ende oft die Förderung, für den Sprung auf den Markt brauche es dann aber eine weitere Anschubfinanzierung.

Wissenschaftler inspizieren ein Produkt
FH Campus Wien
Am FH Campus Wien wurde das Projekt „Drink Smart“ entwickelt

Hörbst verweist auf relativ viele entwickelte Prototypen, die auf den Einsatz warten. Noch gebe es auch kaum Zahlungsbereitschaft dafür, und kassenfinanzierte Projekte gebe es wenige. Die Kosten seien aber eine Frage der Zeit, so der Wissenschaftler, der an den Preisverfall von Haushaltselektronik erinnert.

Waibel sieht ein Manko darin, dass der Markt noch nicht gut genug funktioniere, auch auf Anbieterseite: So fehle es an Anlaufstellen, wo kompetente Beratung geboten und Applikationen auch gezeigt werden.

Rechtliche Grundlagen fehlen teilweise

Waibel beklagt zudem, dass technische Hilfen derzeit privat finanziert werden müssten, auch wenn sie das Sozialsystem auf Dauer deutlich entlasten würden. Damit Projekte in den Regelbetrieb gehen können, brauche es auch eine vernünftige gesetzliche Grundlage: So sei etwa unklar, wie manche medizinischen Leistungen – etwa Beratungen wie Videotelefonie – verrechnet werden, wenn sie im Leistungskatalog der Kassen fehlen. Zwar habe die ÖVP-FPÖ-Regierung einen Masterplan Pflege vorgesehen, auch dieses Projekt liege nun aber auf Eis.

Immerhin: Hausärzte, Gynäkologen sowie Kinderärzte dürfen künftig telefonische Beratungen mit der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) abrechnen. Nächstes Jahr soll entschieden werden, ob auch andere Ärzte dem Beispiel folgen dürfen. Ähnliche Debatten gibt es in Deutschland. Dort schlug Gesundheitsminister Jens Spahn unlängst „Apps auf Krankenschein“ vor, also dass von den Gesundheitsbehörden zugelassene digitale Assistenzsysteme von der Kasse bezahlt werden.

Keine Akzeptanz für Roboter?

Einige Technologien würden sich in Österreich aber wohl erst in ferner Zukunft oder gar nicht durchsetzen, glaubt Hörbst: Bei pflegenden Robotern gebe es zu viele ethische und moralische Fragen für eine Akzeptanz. Für kognitives Training und Monitoring der Pflegebedürftigen sieht er durchaus Potenzial – aber nicht dort, wo Roboter physisch mit Menschen interagieren. Auch Frohner sieht darin eher unerreichbare Höhen: „Das ist wie der Mount Everest. Und wir müssen zuerst schauen, ob wir es auf den Dachstein hinaufschaffen, das ist schwierig genug.“