Meeting-Saal des EU-Gipfels
APA/AFP/Geoffroy Van Der Hasselt
EU-Gipfel unterbrochen

Tusk will Einzelgespräche führen

Die EU-Staats- und Regierungschefs sind am Sonntagabend erneut in einen Streit über die neue Führung für die EU geraten. So formierte sich massiver Widerstand gegen die Berufung des Sozialdemokraten Frans Timmermans als neuen Kommissionschef. Zuerst brachten die Differenzen den Zeitplan durcheinander, dann wurde der Gipfel gar unterbrochen.

Kurz nach 23.00 Uhr kam es zu dieser Unterbrechung: EU-Ratspräsident Donald Tusk werde weitere bilaterale Gespräche mit Staats-und Regierungschefs organisieren, teilte Tusks Sprecher Preben Aamann auf Twitter mit. Der EU-Gipfel soll erst wieder aufgenommen werden, wenn die bilateralen Gespräche abgeschlossen sind, teilte der Sprecher mit.

Das sogenannte Beichtstuhlverfahren wird in der EU angewandt, um ein drohendes Scheitern von Verhandlungen zu verhindern. Zuvor verzögerte sich der eigentliche Gipfelbeginn um mehr als drei Stunden, weil einzelne Staats- und Regierungschefs in Vorgesprächen versuchten, ihre Differenzen auszuräumen. Bereits zuvor wurde der Beginn mehrfach verschoben. Auch eine mögliche Vertagung auf den 15. Juli war im Gespräch.

Streit zwischen Merkel und EVP?

Tusk legte davor ein mögliches Personalpaket vor. Ein Sozialdemokrat als Kommissionschef, EVP-Politiker für die Ämter des Parlamentspräsidenten und der EU-Außenbeauftragten und ein Liberaler als neuer Ratspräsident, also Tusks Nachfolger.

Deutsche Kanzlerin Angela Merkel
APA/AFP/Francois Lenoir
Merkels Osaka-Deal traf in Brüssel auf Widerstand

In der französischen Delegation war von einer nicht vorhergesehenen Krise zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und der EVP die Rede. Mehrere konservative Regierungschefs hatten sich verärgert über den von Merkel mit ausgehandelten Vorschlag gezeigt, den Sozialdemokraten Timmermans zum neuen Kommissionspräsidenten zu machen. Damit wäre der EVP-Spitzenkandidat bei der Europawahl, Manfred Weber, für diesen Posten aus dem Rennen.

„Die Vereinbarung ist tot“

Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sanchez und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hatten sich am Rande des G20-Gipfels im japanischen Osaka auf Timmermans als nächsten Kommissionschef verständigt. Grund war, dass Weber beim letzten EU-Gipfel keine Unterstützung bekommen hatte. „Die Vereinbarung ist tot“, hieß es am Sonntagabend aus EVP-Kreisen. Die EVP habe erklärt, „dass sie den Deal von Osaka nicht akzeptieren wird“.

Tajani: EVP sieht Weber weiter als Kandidat

Laut EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani sieht die EVP weiter Weber als Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten. Es sei Position EVP, dass der Wahlsieger die Nachfolge von Jean-Claude Juncker antrete, sagte Tajani. „Das ist Manfred Weber.“ Wenn andere Parteien Anspruch auf den Posten anmeldeten, respektiere das nicht das Prinzip der Spitzenkandidaten bei der Europawahl.

Orban: „Historischer Fehler“ und „Demütigung“

Vor Gipfelbeginn baute sich auch Widerstand der Osteuropäer gegen Timmermans auf. Polen, Tschechien und Ungarn äußerten sich kritisch zum Niederländer. Von Ungarn kam entschiedene Ablehnung. Dies wäre „ein sehr schwerer, sogar historischer Fehler“, schrieb die ungarische Europaministerin Judit Varga an EVP-Präsident Joseph Daul. Damit würde die EVP als stärkste Kraft ihren Anspruch auf Führung an andere Parteien abgeben.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban schrieb von einer „Demütigung“, wenn die wichtigste Position „an unseren größten Rivalen geht“. „Das wird zu unserer Selbstzerstörung führen“, schreibt Orban zudem. Auch er sprach von einem „sehr erheblichen, oder sogar historischen Fehler“.

Auch der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis stellte sich gegen Timmermans. „Diese Person ist nicht die Richtige, um Europa zu einen“, so Babis. Die vier Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Ungarn und Tschechien hätten in der Vergangenheit das Gefühl gehabt, Timmermans habe dieser Region nicht besonders positiv gegenübergestanden, sagte Babis.

Macron zeigt sich offen für Timmermans

Der französische Präsident Macron, der an den Vorberatungen beteiligt war, zeigte sich offen für Timmermans – aber auch für den Brexit-Unterhändler Michel Barnier und die dänische Liberale Margrethe Vestager für den Posten des Kommissionschefs. Vestager hatte sich zwar im Wahlkampf präsentiert, war aber nicht alleinige Spitzenkandidatin ihrer Parteienfamilie.

Portugals Ministerpräsident Antonio Costa glaubt, dass der Widerstand der EU-Ostländer gegen Timmermans überwunden werden kann. Er appelliert an Italien, Timmermans in Solidarität der Südländer zu unterstützen. Portugal und Spanien haben sozialdemokratische Ministerpräsidenten, Griechenland hat dagegen einen Linkspolitiker an der Spitze.

Conte erwartet „langen Marathon“

Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte stellte sich indes auf zähe Verhandlungen ein. „Ich bin bereit für einen langen Marathon heute Abend“, sagt er vor Beginn des Treffens. Er werde die Kandidatur Timmermans’ für das Amt des Kommissionspräsidenten prüfen, sagte er. Timmermans selbst äußerte sich zurückhaltend zu dem Personalpoker. „Ich bin Kandidat der sozialistischen Parteienfamilie. Wir werden sehen, wie sich die Regierungschefs entscheiden – wenn sie irgendetwas entscheiden.“

Es würden „keine sehr einfachen Beratungen, um es mal vorsichtig zu sagen“, sagte die deutsche Kanzlerin Merkel. Sie verwies darauf, dass die Konservativen trotz des Sieges bei der Europawahl keine Mehrheit im EU-Parlament hätten, um ihren Kandidaten für die Juncker-Nachfolge durchzubringen.

Juncker will zu Abschluss der Debatte kommen

Der scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker will beim Gipfel zu einem Abschluss der Postendebatte kommen. Eine Verlängerung mache keinen Sinn, sagte er vor Beginn der Beratungen in Brüssel und wünschte sich ein Personaltableau „das stimmig ist“.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
AP/Olivier Matthys
Juncker: Liberale haben Spitzenkandidatensystem „gekillt“

Wenn der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, Timmermans, nicht „in Ordnung“ wäre, hätte er ihn nicht zu seinem Stellvertreter ernannt, erklärte Juncker. Stellvertreter sei jedoch nicht Kommissionspräsident, räumte er ein. Seiner Ansicht nach haben die Liberalen das Spitzenkandidatensystem „gekillt“, da die Parteienfamilie sich nicht auf einen Spitzenkandidaten vor der Europawahl einigen habe können und dann viele Vorschläge gemacht hätte.

EU-Parlamentspräsident Tajani betonte, dass die Wahl seines Nachfolgers am Mittwoch unabhängig vom Ausgang der Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs stattfinden werde. „Einigung oder nicht (im Rat) – das Parlament wird weitermachen“, sagte er. Er habe den Punkt auf dem EU-Gipfel angesprochen.

Bierlein will mit Ergebnis nach Hause kommen

Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein zeigte sich vor Gipfelbeginn einigermaßen zuversichtlich, dass die Staats- und Regierungschefs den Poker um die EU-Spitzenjobs diesmal abschließen können. „Ich hoffe, dass man mit einem Ergebnis nach Hause kommt, das für alle mehrheitsfähig ist und für Europa Sinn macht“, sagte Bierlein.

Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein
APA/AFP/John Thys
Bierlein bei ihrer Ankunft beim Gipfel

Die Kanzlerin sagte, ihr sei Ausgewogenheit, Mehrheitsfähigkeit und die Berücksichtigung der EU-Wahl-Ergebnisse wichtig. Auf konkrete Namensspekulationen wollte sich Bierlein aber nicht einlassen. Die Chefin der Übergangsregierung hatte zuletzt betont, dass sie ihre Zustimmung zu einem Paket geben werde, sobald sich konstruktive Mehrheiten abzeichnen würden.

Auf die Frage, ob Österreich also im Fall des Falles auch für den Sozialdemokraten Timmermans votieren werde, wollte sie sich aber auf keine konkrete Antwort festlegen: „Wir werden im Sinne Europas das gesamte Paket prüfen und beurteilen.“