Palazzo Montecitorio in Rom
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Kein Defizitverfahren

Brüssel mit Besänftigungsmanöver für Italien

Der Streit zwischen den EU-Defizitwächtern und der italienischen Regierung über Schulden und Strafe hat sich in den vergangenen Monaten zugespitzt. Nun kam es doch sehr rasch zu einer einstweiligen Lösung. Nach einem schnellen Maßnahmenpaket aus Rom verzichtete die EU-Kommission am Mittwoch auf ein für Italien teures Strafverfahren. Dass Italiens Zustimmung zum EU-Postenpaket etwas damit zu tun haben könnte, wird dementiert.

Die Atmosphäre zwischen Rom und Brüssel verschlechterte sich zusehends, seit Italiens Regierung aus der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtspopulistischen Lega im Amt ist. Zusammen mit dem fraktionslosen Premier Giuseppe Conte trat die Regierung gegen Europas Sparpolitik auf und versprach hingegen Sozialmaßnahmen wie die Einführung eines Grundeinkommens. Vizepremier Matteo Salvini forderte zudem drastische Steuersenkungen.

Dieser bisherige Kurs verschärfte Italiens Budgetdruck, man erhoffte sich aber die Ankurbelung der Wirtschaft – ein Punkt, der bei Ökonominnen und Ökonomen auch auf Zustimmung trifft. Salvini ging zudem wiederholt auf Konfrontationskurs mit der EU, sei es in der Frage der Flüchtlingsverteilung oder indem er die Defizitregeln für obsolet erklärte.

Verfahren „nicht gerechtfertigt“

Italiens Schulden beliefen sich mit 2,3 Billionen Euro zuletzt auf mehr als 130 Prozent, die Obergrenze liegt bei 60 Prozent. Die EU-Kommission empfahl schließlich Anfang Juni die Einleitung eines Strafverfahrens. Am Ende hätte für Italien eine Geldbuße von 3,5 Milliarden Euro stehen können. Am Mittwoch aber die für viele überraschende Wende: Die EU verzichtet auf ein solches Verfahren. Es sei „zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gerechtfertigt“, erklärte EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici in Brüssel.

Nur zwei Tage zuvor hatte die Regierung in Rom ein Maßnahmenbündel verabschiedet, um einem Verfahren zu entgehen. Darin enthalten: das Versprechen, bis Ende des Jahres das Defizit auf 2,04 Prozent zu drücken und Einsparungen bei den Ministerien. Sollten außerdem die geplanten Sozialmaßnahmen weniger als gedacht kosten, sollten die Einsparungen genutzt werden, um das Haushaltsdefizit zu drücken – und nicht für andere Ausgaben verwendet werden. Die Ausgaben sollen insgesamt um 7,6 Milliarden Euro gekürzt werden.

Einigung über Posten „absolut irrelevant“

Diese Zusagen reichten der Kommission, deren Umsetzung würde aber „sehr genau überwacht“, so Moscovici. Bei Verstößen behalte man sich die Einleitung eines Strafverfahrens weiterhin vor. Diese Lösung ist auch erst einmal vorübergehend: Die EU-Kommission betonte, Zusagen für den Haushaltsentwurf 2020 zu brauchen, damit das Budget nicht gegen EU-Fiskalregeln verstoße. Der Haushalt muss bis Mitte Oktober der Kommission vorliegen.

Grafik zur Entwicklung der Schulden in Italien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Eurostat

Der Kommissar wies gleichzeitig den Verdacht zurück, dass die Entscheidung seiner Behörde etwas mit der Zustimmung Italiens zu den Vereinbarungen über die Vergabe europäischer Spitzenjobs beim EU-Gipfel diese Woche zu tun habe. Das sei „absolut irrelevant“ bei der Entscheidung zum Defizitverfahren gewesen, sagte er. „Es gibt keinerlei Verbindung.“

Es habe auch am Rande des G-20-Gipfels in Japan am Wochenende mit Italiens Finanzminister Giovanni Tria intensive Verhandlungen gegeben. Dieser Dialog habe nun „Früchte getragen“, sagte der französische EU-Kommissar. Dem Verzicht auf das Verfahren müssten nun noch die EU-Finanzministerinnen und -minister zustimmen. Er sei „sehr zuversichtlich“, dass diese den Empfehlungen seiner Behörde folgen würden, sagte Moscovici.

Widerstand gegen Timmermans

Die Einigung auf die Topjobs der EU war unter anderem zunächst an Italien gescheitert. Der EU-Gipfel am Montag hatte zum niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans als Kommissionschef geneigt. Dagegen trat die Regierung in Rom ebenso stark auf wie die Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei. Der gemeinsame Widerstand war so groß, dass Fragen nach Absprachen aufkamen. Regierungschef Conte wies zurück, dass es einen „Pakt“ gegeben habe. „Mit der Gruppe der Visegrad-Länder gibt es keine vorher festgelegte Allianz“, so Conte.

EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici
Reuters/Francois Lenoir
Kommissar Pierre Moscovici verkündete am Mittwoch den Verzicht auf ein Strafverfahren

Conte sprach sich für eine Frau an der Spitze der Kommission aus und forderte eine Kommissionsfunktion mit Wirtschaftskompetenzen für Italien. Laut Medienberichten geht es Italien um den Posten des Industriekommissars. Dieser war bereits zwischen 2010 und 2014 von Antonio Tajani bekleidet worden, der derzeit EU-Parlamentspräsident ist.

Von drei auf einen

Mit Tajani, der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und EZB-Chef Mario Draghi waren bisher drei hohe EU-Posten italienisch besetzt. Nun dürfte sich die Zahl verringern. Zwar wurde am Mittwoch der italienische Sozialdemokrat David-Maria Sassoli neuer Präsident des EU-Parlaments. Er wird aber nur die Hälfte der Legislaturperiode im Amt sein, danach übernimmt die Europäische Volkspartei.

Die sonstigen Spitzenjobs gingen zudem an Deutschland, Frankreich, Belgien und Spanien. Zudem ist die Regierungspartei Lega unzufrieden mit Sassoli, weil er Sozialdemokrat ist. Dem zuvor verhandelten Personalpaket mit der deutschen Konservativen Ursula von der Leyen stimmte Italien aber rasch zu, innerhalb weniger Stunden kam am Dienstag die Einigung zustande. Conte lobte laut einem Diplomaten von der Leyen nach ihrer Nominierung für ihre Erfahrung.

Sowohl für Brüssel als auch Rom verschafft die Entscheidung gegen ein Strafverfahren derzeit eine Atempause im langen Streit. Die Amtszeit der derzeitigen EU-Kommission endet im Herbst. Es ist unwahrscheinlich, dass sie den Konflikt noch einmal aufleben lässt. Für Italiens Regierung ist die Botschaft aus Brüssel ein Erfolg. Das Land habe ein Strafverfahren nicht verdient, sagte Vizepremier Luigi Di Maio am Mittwoch, „und die heutige Erklärung bestätigt Italien und diese Regierung“.