Eine Patientin beim Augenarzt  in Österreich
Getty Images/Westend61
Kosten oder Einsparungen

Kassenfusion sorgt für Spekulationen

Die von der ehemaligen ÖVP-FPÖ-Regierung auf den Weg gebrachte Fusion und Integration der Kassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) gibt weiterhin Rätsel auf. Erst bezifferte Sozialministerin Brigitte Zarfl die Kosten in einer Schätzung mit 300 bis 400 Mio. Euro – woraufhin die ehemaligen Regierungsparteien Zarfl vorwarfen, Zahlen zurückzuhalten. Die Arbeiterkammer (AK) rechnete sogar mit weitaus höheren Kosten.

Zarfl nannte die Zahlen zuletzt in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung. Sie hatte sich dabei auf ein Gutachten zu den ökonomischen Effekten der Sozialversicherungsreform bezogen, ohne weitere Details zu nennen. Das Gutachten wurde im April 2019 von ihrer Vorgängerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) in Auftrag gegeben. Am 1. Jänner 2020 sollen die neuen Träger ihre Arbeit aufnehmen.

In einem der APA vorliegenden Gutachten zu den ökonomischen Effekten wird hingegen auch das Einsparungspotenzial der Reform mit rund 300 Mio. Euro jährlich beziffert, das nach fünf Jahren voll wirksam wird. Die Bandbreite der möglichen Kostensenkung wird darin mit 277 bis 337 Mio. Euro jährlich angegeben.

Kostensenkung in Verwaltung

Das Einsparungspotenzial errechnet sich laut dem Gutachten aus Kostensenkungen in der Verwaltung, die 95 bis 112 Mio. Euro bringen sollen, aus Optimierungen in der Beschaffung und im Einkauf von Verwaltungsprodukten und Heilbehelfen, die in Summe mit 155 bis 185 Mio. angesetzt wurden, sowie durch gemeinsame IT-Lösungen, deren Potenzial auf 27 bis 40 Mio. geschätzt wird.

Gesundheitsministerin Brigitte Zarfl
ORF.at/Roland Winkler
Zarfl nannte die Zahlen zuletzt in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung

Auf eine Quantifizierung möglicher Kostensynergien im operativen Bereich der Sozialversicherungsträger wurde aufgrund fehlender Datenlage verzichtet. Grundsätzlich orten die Gutachter der Wiener Wirtschaftsuniversität aber auch hier noch mögliche weitere „Ansatzpunkte“. Weiters müsste auch eine Bündelung und Stärkung der Verhandlungsmacht gegenüber den Vertragspartnern, insbesondere den Ärzten bzw. der Ärztekammer, einen Kostenvorteil nach sich ziehen, heißt es in der Expertise.

Die Gutachter schreiben bezüglich der Kosten von einer „groben Abschätzung“ und einer Zahl, die in etwa dem Ein- bis Eineinhalbfachen des jährlichen Einsparungspotenzials entspreche, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht vertretbar erscheine. Zudem könnten die Fusionskosten durch nicht prognostizierbare positive Einmaleffekte und Einmalerlöse aus der Verwertung von Immobilien noch deutlich reduziert werden, wie es in dem 30-seitigen Papier heißt.

Sparpotenzial von bis zu 1.500 Vollzeitäquivalenten?

Die Verwaltungskosten der österreichischen Sozialversicherung wurden für den Zweck der Modellrechnung im Jahr 2017 auf 1,57 Mrd. Euro geschätzt. Umgelegt auf die zu diesem Zeitpunkt 16.000 Vollzeitäquivalente bzw. Jobs gehen die Gutachter davon aus, dass durch anstehende Pensionierungen und Fluktuation in den nächsten fünf Jahren 1.000 bis 1.500 Vollzeitäquivalente eingespart werden können.

Designierter Gesundheitskassen-Obmann Krenn zur Kassenreform

Matthias Krenn (FPÖ) argumentiert in der ZIB2, die Reform sei notwendig und sinnvoll. Auch die Studie, die das Einsparungspotenzial infrage stellt, ist Thema.

„Unter finanziellen Gesichtspunkten“ und aus dem „Blickwinkel der betriebswirtschaftlichen Effizienz“, erscheint die Sozialversicherungsreform „im Vergleich zur Ist-Situation überlegen und die Reorganisation ökonomisch zweckmäßig“, erklären die Gutachter. Voraussetzung dafür seien aber eine ordentliche Integrationsplanung sowie die entsprechenden Ressourcen für die Umsetzung. Als Hindernis für die Reform, die im Oktober beschlossen wurde, betrachten die Experten den offenkundigen Dissens zwischen ÖVP und SPÖ sowie unter den Sozialpartnern.

Die Gutachter warnen zudem vor einer Schwächung des neuen Dachverbands durch die häufige Rotation des Vorsitzenden. Der „Büroleiter“ des Dachverbands sollte deshalb zu einer Art „Generalsekretär“ aufgewertet werden.

Zweifel an „Patientenmilliarde“

Die frühere ÖVP-FPÖ-Regierung hatte sich zu den Fusionskosten nie konkret geäußert und vielmehr auf die erhoffte Einsparung von einer Milliarde Euro bis 2023 durch die Reduktion der Krankenkassen auf fünf Träger unter dem Dach der ÖGK verwiesen. Diese von der Koalition „Patientenmilliarde“ genannte Zahl zerrinne nun wie Sand zwischen den Fingern, sagte JETZT-Klubchef Bruno Rossmann. Das Einsparungspotenzial sei „noch nicht ansatzweise gehoben“, bei den behaupteten Einsparungseffekten fehle es an Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit.

Schon im vergangenen Herbst wurde in Regierungskreisen eingeräumt, dass in puncto Sparmilliarde keine genauen Berechnungen zugrunde lägen, sondern nur „Schätzungen auf Basis diverser Experten“ sowie Zahlenwerte, die aus einer Studie der London School of Economics zur Kassenreform übernommen worden seien.

Wöginger: Zarfl „SPÖ-Parteisoldatin“

„Die Kassenfusion bringt die Patientenmilliarde, das belegt auch eine Studie“, betonte dagegen ÖVP-Klubobmann August Wöginger in einer Aussendung. „Hier entpuppt sich Sozialministerin Zarfl, deren Kabinettchefin SPÖ-Kandidatin bei der Nationalratswahl war, als SPÖ-Parteisoldatin“, meinte er.

Auch Matthias Krenn (FPÖ), Chef des Überleitungsausschusses und künftig Obmann der neuen Gesundheitskasse, ist davon überzeugt. Die „Patientenmilliarde“ wird erreichbar sein – zwar nicht bis 2023, aber dafür werde es sogar mehr sein, weil „Jahr für Jahr an die 300 Mio. Euro eingespart werden können“, sagte Krenn am Mittwoch in der ZIB2.

„Zweifelhafte Zahlenspiele“

Scharfe Kritik kam am Mittwoch neuerlich von roten Gewerkschaftern. Der angekündigte Stellenabbau von 1.500 Dienstposten werde „zu einer massiven Verschlechterung des Gesundheitssystems führen“, zeigte sich der Chef der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG), Rainer Wimmer, in einer Aussendung überzeugt: „Für die PatientInnen bedeutet eine Personalreduktion dieser Größenordnung längere Wartezeiten, Verzögerungen bei der Bearbeitung von Anträgen und Einschränkungen im Angebot.“

Ex-Sozialministerin Beate Hartinger-Klein
ORF.at/Roland Winkler
Hartinger-Klein gab das Gutachten in Auftrag

Das Gutachten bestehe „großteils aus zweifelhaften Zahlenspielen“, sagte David Mum, Mitglied im Überleitungsausschuss der ÖGK für die FSG, in einer Aussendung. Die „herbeikonstruierten Einsparungspotenziale“ seien „real nicht nachvollziehbar“. Die geschätzten Einsparungen bezögen sich außerdem auf den Verwaltungsaufwand der gesamten Sozialversicherung (Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung), die Reform betreffe aber fast nur die Krankenversicherung.

Patientenmilliarde „in Luft aufgelöst“

Auch Christoph Matznetter, Präsident des Sozialdemokratischen Wirtschaftsverbands, beurteilte die Reform als „türkis-blaue Kostenfalle“. Er forderte ebenso wie der Präsident des SPÖ-Pensionistenverbandes, Peter Kostelka, eine sofortige Rückabwicklung der Fusion. „Die versprochene Patientenmilliarde hat sich damit jetzt schon in Luft aufgelöst“, urteilte Kostelka.

Nach Einschätzung der AK werden die Kosten für die Fusion weit höher liegen als die im Gutachten genannten 300 bis 400 Mio. Euro. Sie rechnet bis 2023 mit Kosten von rund 2,1 Mrd. Euro. Die künftige Bundesregierung müsse das Umbauvorhaben daher unter „intensiver Einbeziehung der Sozialpartner“ überarbeiten, forderte die AK.

Wirbel um Beraterkosten und Sparpotenzial

Die „Wiener Zeitung“ berichtete vor wenigen Tagen von 2,3 Millionen Euro, die für die ÖGK zur Fusionsbegleitung freigegeben wurden. Ein Zehn-Millionen-Euro-Rahmen für Investitionen, in den auch Beratungskosten fallen, wurde laut dem Bericht für die Fusion der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) und der Sozialversicherungsanstalt der Bauern (SVB) beschlossen. Insgesamt werden 63 Fusionsprojekte extern begleitet. Einem Kommunikationsberater zufolge liegen diese kolportierten Ausgaben für ein Projekt dieser Größenordnung „durchaus im üblichen Rahmen“.