Fahnen von China und Hongkong
Reuters/Tyrone Siu
Hongkong

Chinas Dilemma mit den Protesten

Die Proteste in Hongkong stellen die Regierung in China vor ein Dilemma. Während sich in den vergangenen Tagen die Rhetorik Pekings in Richtung der Sonderverwaltungszone verschärfte, könnte ein tatsächliches Eingreifen weitreichende Folgen haben. Expertinnen und Experten warnen vor einem Bumerangeffekt.

Man schließe den Einsatz der Armee gegen Demonstrantinnen und Demonstranten in Hongkong nicht aus, sagte ein Sprecher der für die Region zuständigen chinesischen Behörde am Dienstag. Die Volksbefreiungsarmee sei eine starke Kraft und werde jeden Teil des chinesischen Territoriums verteidigen.

Doch ein Eingreifen Chinas würde die Position des Landes in der Welt „dramatisch verändern“ und „sicher die Regierung von (Präsident, Anm.) Xi Jinping bedrohen“, sagte der Berliner China-Experte Klaus Mühlhahn. Ostasienwissenschaftlerin Susanne Weigelin-Schwiedrzik von der Uni Wien sagte unterdessen im Ö1-Morgenjournal, dass – nach ihrer Einschätzung – die Regierung in Peking „auf keinen Fall eingreifen“ wolle, weil sie mit „starker Kritik“ rechnen müsse – Audio dazu in oe1.ORF.at.

Zusätzlicher Druck durch Handelsstreit

Für China, das schon durch den Handelsstreit mit den USA unter Druck steht, könnte sich die Situation damit verschärften. Eine Militäraktion in der früheren britischen Kronkolonie wäre „ein unglaublicher Fehler“, weil sich dann eine „gewaltige internationale Front“ gegen China bilden würde, sagte Mühlhahn.

Proteste in Hongkong
AP/Vincent Thian
Tausende Menschen waren in den vergangenen Tagen in Hongkong auf der Straße

Das Ausmaß der Protestbewegung sei eine große Überraschung für Peking gewesen. Dort habe man „völlig unterschätzt, wie groß die Abneigung (gegenüber China) in Hongkong ist“, so der Experte. Anders als im Jahr 2014, als die „Regenschirm“-Demokratiebewegung wochenlang demonstrierte, sei ein Einlenken der Demonstranten diesmal fraglich. „Sie haben jetzt schon verloren“, so der Sinologe im Hinblick auf den großen Autoritätsverlust Pekings im Konflikt mit der Demokratiebewegung.

Unterstützung in Hongkong, Skepsis in China

Auch dürfte die Protestbewegung einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich haben. „Es gibt einen Teil, der schweigt, aber es ist nicht die Mehrheit“, betonte er. Explizit für Peking sei vor allem der Wirtschaftssektor. Die „allerbeste Lösung“ wäre, wenn die Regierung in Hongkong einen Dialog mit den Demonstranten beginnen würde, so Mühlhahn, der diesbezüglich auch von einem Rücktritt der diskreditierten Regierungschefin Carrie Lam sprach.

In China hingegen dürfte in der Bevölkerung die kritische Einstellung gegenüber den Protesten überwiegen. Dort würde man der Argumentation der Führung, wonach die Proteste von „feindlich gestimmten Kräften“ gesteuert seien, folgen. Aufgrund der Größe und Dauer der Proteste könne die chinesische Regierung jedenfalls nicht mehr verschweigen, was in Hongkong passiert, so Weigelin-Schwiedrzik. Am Anfang sei „nicht berichtet“ worden, so die Sinologin, mittlerweile würden die Ereignisse auch in offiziellen Zeitungen diskutiert.

„Die überwiegende Mehrheit in China steht den Protesten absolut kritisch gegenüber“, so Mühlhahn. Allerdings seien in Sozialen Netzwerken auch Solidaritätsbekundungen von Festlandchinesen aufgetaucht. Diese hätten etwa Fotos ihrer Reisepässe veröffentlicht, verbunden mit Unterstützungserklärungen für die Proteste.

Ungewissheit über internationale Reaktion

Sollte sich Peking tatsächlich zu einer gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung entscheiden, ist nicht abzusehen, wie sich Großbritannien und die USA verhalten werden. Großbritannien könnte nämlich auf Basis des im Jahr 1984 geschlossenen Vertrags mit China Forderungen stellen.

Proteste in Hongkong
AP
Bei den Protesten kam es immer wieder zu Ausschreitungen, China drohte bereits mehrmals damit einzugreifen

Mühlhahn verwies diesbezüglich aber auf das Naheverhältnis des neuen britischen Premierministers Boris Johnson zu US-Präsident Donald Trump. Dieser „sieht keine amerikanischen Interessen in Hongkong“. Doch könnte er unter Druck der amerikanischen Öffentlichkeit geraten, und auch Großbritannien werde bei dramatischen Bildern aus Hongkong nicht sagen können: „Da sagen wir nichts dazu.“

„Hongkongs Krise … hält seit 60 Tagen an und sie wird schlimmer und schlimmer“, sagte indes der ranghohe chinesische Regierungsvertreter Zhang Xiaoming am Mittwoch. Die Gewalt nehme zu und die Auswirkungen auf die Gesellschaft breiteten sich aus. „Man kann sagen, dass Hongkong jetzt mit der schwierigsten Lage seit seiner Übergabe konfrontiert ist.“ Zhang ist in der Regierung für die Koordination der Angelegenheiten rund um die Sonderverwaltungszone zuständig. Er äußerte sich während einer Veranstaltung in der südchinesischen Stadt Shenzhen.

Zahlreiche Festnahmen

Die Proteste in Hongkong gehen unterdessen ungebremst weiter. Die Hongkonger Polizei gab am Dienstag die Festnahme von 148 Menschen in Zusammenhang mit dem Streik und den Demonstrationen vom Vortag bekannt. Bei einer von Protesten des Hongkonger Journalistenverbands gegen Polizeigewalt begleiteten Pressekonferenz warf Polizeivertreter John Tse den Demonstranten die „rücksichtslose Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit“ vor. Laut Tse nahm die Polizei am Montag 95 Männer und 53 Frauen im Alter zwischen 13 und 63 Jahren fest. Einsatzkräfte sollen 800 Patronen Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt haben.

Der Streik am Montag hatte das Leben in der Finanzmetropole weitgehend lahmgelegt. Vereinzelt schlugen die Proteste in Gewalt um. Die seit zwei Monaten andauernden Proteste waren ursprünglich durch ein – später für "tot erklärtes, aber nicht zurückgezogenes – Auslieferungsgesetz ausgelöst worden, das die Überstellung von Verdächtigen an China erlaubt hätte. Die Proteste weiteten sich danach zu einer Bewegung gegen den wachsenden Einfluss Pekings in Hongkong aus. Gefordert werden der Rücktritt von Regierungschefin Lam und demokratische Reformen.