Instagram-Stars posieren vor Ruinen in Tschernobyl, Touristinnen knipsen sich selbst zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin: „Dark Tourism“, das Reisen an Orte mit düsterer Geschichte, hat ein angeknackstes Image in Zeiten oft gedankenloser Selbstdarstellung. Dabei umfasst der Begriff ein weites Spektrum, das sich seit Beginn des Massentourismus im Spannungsfeld zwischen dem Jahrmarktreiz von Foltermuseen und seriösen Studienreisen mit geschichtlichem Schwerpunkt bewegt.
Als „Dark Tourism“ oder auch „Grief Tourism“, also Trauertourismus, definiert sich eine Form von Tourismus an Orte, die im weitesten Sinne mit historischen Gräueltaten oder Tragödien in Zusammenhang stehen. Das können Tatorte von Verbrechen sein, Schauplätze von Katastrophen oder auch Gedenkstätten. Das Phänomen trifft zunehmend auch auf wissenschaftliches Interesse, berichtet etwa Gregor Holzinger von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen: „Wir bekommen regelmäßig Anfragen von Studierenden, die zu Dark Tourism forschen.“
Schaudern mit Geschichte
Die gesamte Bandbreite des Begriffs nutzt das Lese- und Reisebuch „Vergessen & verdrängt“ aus, das der Autor und Journalist Georg Lux gemeinsam mit dem Fotografen Helmuth Weichselbraun verfasst hat. Lux und Weichselbraun reisen seit vielen Jahren gemeinsam im Alpen-Adria-Raum auf den Spuren verlassener Orte, „nicht aus voyeuristischer Faszination am Grauen oder am Bösen, sondern weil auch dunkle Ereignisse nicht im historischen schwarzen Loch des Vergessens verschwinden dürfen“, heißt es im Vorwort, das zum „Nachdenken“ einlädt.
Buchhinweis
Georg Lux, Helmuth Weichselbraun: Vergessen & verdrängt. Dark Places im Alpen-Adria-Raum. Styria Verlag, 192 Seiten, 23 Euro.
In 19 Kapiteln, von Kärnten über Oberitalien bis Slowenien, Kroatien und Serbien, haben Lux und Weichselbraun Ausflugsziele von ganz unterschiedlichem Anspruch versammelt. Die Auswahl fiel nicht leicht. „Wir hätten ein ganzes Buch machen können nur über verlassene Irrenhäuser in Italien“, sagt Lux im Gespräch mit ORF.at. „Besonders Italien ist ein Paradies für sogenannte Lost Places. Wenn dort ein Gebäude nicht mehr genutzt wird, wird es meistens nicht abgerissen, sondern verfällt einfach.“
Im Buch kommt nur eine Ruine eines psychiatrischen Krankenhauses vor, die Anstalt Mombello in Limbiate, in der Mussolinis vergessener Sohn Benito Albino Dalser zugrunde ging. Die Vielfalt an Orten ist beachtlich, da kommt das sagenhafte „Feld der steinernen Linsen“ im Kärntner Guttaring ebenso vor wie der Dom von Venzone (Italien) mit seinen Mumien, der Salonzug des jugoslawischen Diktators Josip Broz Tito, der nach dessen Tod als sein Leichenwagen zum Einsatz kam, oder das Staudammunglück von Longarone, wo 1963 fast 2.000 Menschen in den Tod gerissen wurden.
Spielplatz für Erwachsene
Das unhinterfragte Nebeneinander von realen Todesorten, sagenumwobenen Plätzen und inszenierten Gruselkabinetten ist allerdings seltsam, und „der Vielfalt geschuldet“, erklärt Lux: Da wird ein Escape-Room in einem ehemaligen Schlachthof empfohlen, also ein inszenierter Spielplatz für erwachsene Rätselfreunde, und ein paar Seiten weiter wird im selben Umfang die KZ-Gedenkstätte Risiera di San Sabba in Triest beschrieben.
Zumindest der sachliche Fehler in den Hintergrundinformationen zum KZ soll in der nächsten Auflage behoben sein, verspricht Lux. Egal wie komplex die Geschichte des jeweiligen „Dark Place“ ist, mehr als vier schmale Seiten Reportage bekommt keiner; glücklich ist der Autor auf Nachfrage damit nicht. Als kurzweiliger Lesestoff für historisch vage interessierte Reisende taugt der Band, Weiterlesen bei anderen Quellen ist dringend empfohlen.