Der britische Premier Boris Johnson
Reuters/Simon Dawson
Vor Parlamentssitzung

Johnson bleibt auf Konfrontationskurs

Am Tag vor der ersten Parlamentssitzung in Großbritannien nach der Sommerpause ist Premier Boris Johnson Montagabend mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit getreten. Darin betonte er, „ohne Wenn und Aber“ am 31. Oktober aus der EU austreten zu wollen: „Jeder soll wissen, dass ich unter keinen Umständen Brüssel um eine Verschiebung bitten werde.“

Er bekräftigte, nicht auf vorgezogenen Wahlen zuzusteuern: „Ich will keine Wahl, und ihr wollt auch keine.“ Zugleich drängte er die Abgeordneten, nicht für eine „weitere sinnlose Verschiebung“ des Brexits zu stimmen. Die Parlamentarier dürften der Regierung bei den Verhandlungen mit der EU nicht den Boden unter den Füßen wegziehen.

Sollte sein Brexit-Kurs ausgebremst werden, könnte er sich gezwungen sehen, Neuwahlen auszurufen. „Wir werden keine Versuche akzeptieren, bei unseren Versprechungen Abstriche zu machen.“ Noch deutlicher sagte es ein nicht näher genannter Regierungsvertreter am Abend nach Johnsons Erklärung: Sollten die Abgeordneten die Möglichkeit eines „No Deal“-Brexits verhindern, werde es am 14. Oktober Neuwahlen geben. Bei einer Niederlage werde die Regierung bereits am Mittwoch eine Abstimmung über eine Neuwahl beantragen.

Der britische Premier Boris Johnson
AFP/Ben Stansall
Johnson bei seiner Erklärung Montagabend im Anschluss an ein Treffen seines Kabinetts

Gesetzesentwurf gegen „harten“ Brexit

Damit ist eine weitere Konfrontation zu erwarten. Montagabend veröffentlichte der Labour-Abgeordnete Hilary Benn einen Gesetzesentwurf, der verhindern soll, dass Großbritannien die EU am 31. Oktober ohne Abkommen verlässt – außer das Parlament stimmt dem zu, so Benn. Der Gesetzesentwurf, der am Dienstag im Parlament eingebracht werden soll, solle der Regierung Zeit geben, ein neues Abkommen mit der EU zu finden, twitterte Benn, oder einen Konsens mit dem Parlament finden.

Sollte keine der beiden Bedingungen erfüllt werden bis 19. Oktober, forderte Benn Premierminister Johnson auf, um einen Brexit-Aufschub bis 31. Jänner 2020 beim Europäischen Rat zu ersuchen. Benn sicherte zu, dass der Gesetzesentwurf parteiübergreifende Unterstützung habe. Zu den Unterstützern zählen die Abgeordneten der Opposition sowie eine Gruppe von etwa 20 Tory-Rebellen.

Drohung „heuchlerisch“

Am Abend wiederholte ein hochrangiges Regierungsmitglied eine Drohung, die schon zuvor geäußert worden war: Sollten konservative Abgeordnete am Dienstag gegen die Regierung stimmen, würden sie aus der Partei ausgeschlossen.

ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner aus London

Womit spekuliert Großbritanniens Premier Boris Johnson? Eine Analyse über die Ereignisse in Großbritannien und den Brexit-Prozess.

Philip Hammond, Ex-Finanzminister und Teil der Tory-Rebellen, bezeichnete die Drohung schon zuvor als „heuchlerisch“: Acht jetzige Regierungsmitglieder hätten sich dieses Jahr bereits der Parteilinie widersetzt. Wie die britische Agentur PA schreibt, ist darunter auch Johnson selbst, der zweimal gegen den Brexit-Deal seiner Parteikollegin und Vorgängerin Theresa May stimmte.

Zeitdruck im Parlament

Aufgrund der von Johnson verordneten Zwangspause des Parlaments von Mitte September bis Mitte Oktober sind die Abgeordneten unter hohem Zeitdruck. Bis längstens Sonntag haben sie die Möglichkeit, ihr Gesetzesvorhaben durch das Parlament zu bringen. Die Pause des Parlaments selbst wird bis 14. Oktober dauern – schon am 17. will die EU ein letztes Mal zu einem Sondergipfel zum Brexit zusammentreffen.

Die meisten Fallstricke lauern im Oberhaus. Bei den Lords dürften Brexit-Hardliner versuchen, mit einer Flut von Änderungsanträgen und Dauerreden (Filibuster) wichtige Zeit zu verschwenden.

Johnson zeigt sich ermutigt

Johnson zeigte sich Montagabend durch den bisherigen Prozess, einen Brexit-Deal zu erzielen, ermutigt. Es gebe drei Gründe, warum ein solcher Deal mit der EU wahrscheinlicher geworden sei. Die EU könne erkennen, dass Großbritannien ein Abkommen wolle, zweitens könne die EU sehen, dass Großbritannien eine Vision für den Brexit habe, und drittens wisse die EU, dass sich das Vereinigte Königreich auch auf einen „No Deal“-Brexit vorbereite, sagte Johnson.

Doch die EU lehnt bisher Forderungen Johnsons nach Änderungen am Austrittsabkommen ab, solange London keine umsetzbaren Vorschläge dafür liefert. Unklar ist, wie Johnson sich den Vorgaben des geplanten Gesetzes widersetzen will, sollte es tatsächlich verabschiedet werden. Beobachtern zufolge bliebe Johnson in diesem Fall wohl doch nur, eine baldige Neuwahl anzustreben.

Eine Stimme Mehrheit

Prominente Gegner eines „No Deal“-Brexits vermuten hinter dem Vorgehen Johnsons Kalkül. „Ich glaube nicht, dass es große Bemühungen gibt, die Menschen dazu zu bringen, die Regierung diese Woche zu unterstützen“, so der ehemalige Justizminister David Gauke gegenüber der BBC. Man sei offenbar „gut vorbereitet auf einen Aufstand, um dann die Rebellen aus der Partei auszuschließen“, so Gauke. Die Regierung würde die Abgeordneten „fast dazu bringen, gegen sie“ zu stimmen, um damit den Weg für eine Neuwahl frei zu machen, sagte der Tory-Abgeordnete.

Boris Johnson im britischen Unterhaus
Reuters
Es stehen nach wie vor Neuwahlen im Oktober im Raum, sollten sich die Tory-Abgeordneten gegen die Regierung stellen

Johnson verfügt nur über eine Mehrheit von einer Stimme im Unterhaus. Eine Neuwahl ist daher unumgänglich, wenn er künftig mit einer stabilen Mehrheit regieren will. Die Chancen Johnsons, eine Mehrheit zu erreichen, wären nach dem Brexit-Datum höher, weil er dann die Konkurrenz der Brexit-Partei von Nigel Farage nicht mehr zu fürchten hätte. Er könnte daher versucht sein, den Wahltermin auf einen Tag kurz nach dem Austrittsdatum zu legen.

Momentan gibt es zwei Wege, um eine Neuwahl in die Wege zu leiten. Die laut „Guardian“ einfachste Methode ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament – dann könnte Johnson selbst einen Termin für die Wahl vorschlagen. Das könnte natürlich für weitere Auseinandersetzungen sorgen. Die Alternative ist ein Misstrauensvotum gegen Johnson: Sollte innerhalb von zwei Wochen keine Regierung gefunden werden, würde es ebenfalls zu einer Neuwahl kommen.

EU plant Finanzhilfen bei „No Deal“-Brexit

Die EU sorgt für den Fall eines ungeregelten Brexits jedenfalls vor. Die Kommission will offenbar Finanzhilfen für die EU-Mitgliedsstaaten bereitstellen. Die Behörde erstellte nach AFP-Informationen vom Montag dazu einen Änderungsvorschlag für den EU-Solidaritätsfonds, der eigentlich für Naturkatastrophen geschaffen wurde.

Über ihn sollten Mitgliedsstaaten künftig auch Unterstützung erhalten können, um die „hohen finanziellen Belastungen“ im Falle eines „No Deal“-Brexits zu bewältigen, hieß es in einer Zusammenfassung des Vorhabens. Der Kommission zufolge wurden bisher rund fünf Milliarden Euro über den Fonds ausgezahlt. Zuletzt stand jährlich rund eine halbe Milliarde Euro bereit.