Jo Johnson, Bruder des britischen Premierministers Boris Johnson
Reuters/Toby Melville
„Ich war zerrissen“

Boris Johnsons Bruder legt Amt nieder

Der britische Premierminister Boris Johnson gerät wegen seines kompromisslosen Brexit-Kurses immer stärker unter Druck aus den eigenen Reihen. Am Donnerstag legte sein jüngerer Bruder Jo Johnson sein Amt als Staatssekretär und auch sein Mandat als Parlamentsabgeordneter für die konservativen Torys nieder. „Ich war zerrissen zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse“, so die Begründung.

„Es ist eine unauflösbare Spannung und nun ist es an der Zeit, dass andere meine Ämter übernehmen“, schrieb Jo Johnson auf Twitter. Jo Johnson stimmte 2016 für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Ebenso Johnsons Vater Stanley, ein ehemaliger EU-Abgeordneter, der seine Meinung über den EU-Austritt im Jahr 2017 aber änderte und auf dem Brexit bestand.

Boris Johnsons weitere Geschwister – Schwester Rachel und Bruder Leo – gelten nach wie vor als Remainer. Die ehemalige Journalistin Rachel Johnson wechselte vor Jahren von den Torys zu den proeuropäischen Liberal Democrats und trat heuer als Kandidatin der Anti-Brexit-Partei Change UK für die EU-Wahl an. Auf Twitter schrieb sie am Donnerstag: „Die Familie meidet das Thema Brexit beim Essen, weil wir uns nicht gegen den Premierminister verbünden wollen.“

Johnson bestand auf Austritt am 31. Oktober

Die Entscheidung seines Bruders dürfte Boris Johnson tief treffen: Er hatte erst zuletzt 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, die im Streit über seinen Brexit-Kurs gegen die Regierung gestimmt hatten, darunter prominente Mitglieder wie den Alterspräsidenten und ehemaligen Schatzkanzler Kenneth Clarke und den Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.

Stanely Johnson , Rachel Johnson und Jo Johnson
APA/AFP/Stefan Rousseau
Boris Johnsons Vater Stanley neben Schwester Rachel und Bruder Jo beim Tory-Parteikongress im Juli

Johnson will sein Land am 31. Oktober notfalls ohne Abkommen aus der EU führen, sollte Brüssel sich nicht auf seine Forderungen nach Änderungen am Brexit-Deal einlassen. Seiner Ablehnung gegen einen Aufschub verlieh er auch bei einem Auftritt in West Yorkshire Nachdruck: „Lieber wäre ich tot und begraben.“

Regierung gibt sich geschlagen

Konkret stimmten die Tory-Rebellen für einen Gesetzesentwurf – gegen den sich das Gros der Partei bis zuletzt im Parlament stemmte. Der Gesetzesentwurf hatte am Mittwoch gegen Johnsons Willen drei Lesungen im Unterhaus passiert. Er sieht vor, dass der Premierminister einen Antrag auf eine dreimonatige Verlängerung der am 31. Oktober auslaufenden Brexit-Frist stellen muss, sollte bis zum 19. Oktober kein EU-Austrittsabkommen ratifiziert sein.

Befürchtet wurde, dass das Oberhaus durch Verfahrenstricks wie eine Flut von Anträgen und Dauerreden (Filibuster) das Gesetz so lange verzögert, dass es vor der kommende Woche startenden Zwangspause des Parlaments nicht mehr rechtzeitig beschlossen werden kann.

In der Nacht auf Donnerstag gab es dann laut BBC einen Durchbruch. Lord Ashton of Hyde versprach nach Verhandlungen mit der Opposition, dass das Gesetz bis Freitagnachmittag das Oberhaus passieren werde. Zudem habe das Unterhaus zugesichert, Abänderungsanträge des Oberhauses noch am Montag zu berücksichtigen. Die Regierung beabsichtige sicherzustellen, dass das Gesetz bereit sein werde für die königliche Zustimmung, so Lord Ashton laut BBC. Die führende Labour-Vertreterin im Oberhaus, Baronin Angela Smith, bestätigte die Einigung im Oberhaus.

Abstimmung über vorgezogene Wahl am Montag

Am Donnerstag bestätigte der hochrangige Tory-Politiker Jacob Rees-Mogg unterdessen, dass das Parlament am Montag über Neuwahlen debattieren und abstimmen werde. Mit demselben Antrag war Johnson zuvor gescheitert. Für den neuen Premier war es neben der Mehrheit für den Gesetzesentwurf im Unterhaus der zweite Rückschlag an nur einem Tag.

Britischer Premierminister Boris Johnson diskutiert im Unterhaus
APA/AFP/Jessica Taylor
Das Unterhaus fügte Premier Johnson am Mittwoch zwei herbe Niederlagen zu

Für den Neuwahlantrag Johnsons hätten zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen müssen, um dem Antrag zum Erfolg zu verhelfen – was Johnson bei Weitem verfehlte. Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour-Partei kündigte an, er werde einer Neuwahl erst zustimmen, wenn das Gesetz gegen den „No Deal“ in Kraft getreten ist.

EU bereit zu Zusammenarbeit mit Johnson

Die EU-Kommission wollte indes weiter mit der Regierung von Johnson zusammenarbeiten. Die britische Regierung habe bisher keine belastbaren Alternativen für eine künftige Regelung an der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und Irland vorgelegt, so ein Sprecher. Zugleich habe sie erklärt, in Zukunft nur noch ein sehr begrenztes Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union anzustreben, sagten die EU-Vertreter am Donnerstag in Brüssel.

Die Regierung in London wolle Unterschiede zur EU bei Regeln wie etwa staatlichen Beihilfen zulassen, so die EU-Vertreter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die britische Annahme, dass die EU bei den Verhandlungen unter Druck nachgeben würde und dass ein Abkommen auf dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober besiegelt und dann rechtzeitig vor dem geplanten Brexit am 31. Oktober ratifiziert werden könnte, sei unrealistisch, hieß es weiter. Einen weiteren Aufschub könne man sich bei gutem Grund aber vorstellen.

Im Falle eines „No Deal“-Brexits will die EU besonders hart getroffenen Mitgliedsstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmern mit bis zu 780 Millionen Euro helfen. Das Geld soll aus zwei bestehenden Hilfsfonds kommen. Diesem Vorschlag der EU-Kommission müssten das Europaparlament und die Mitgliedsstaaten allerdings noch zustimmen. Auch die britische Regierung kündigte zusätzliche Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden Pfund (rund 2,2 Mrd. Euro) an, um die Brexit-Folgen zu bewältigen.

Brüssel sieht geringe Chancen auf spontanen Deal

Die Chancen für einen spontanen Brexit-Deal beim EU-Gipfel im Oktober sind nach Einschätzung von EU-Diplomaten gering. „Die Annahme, dass in nur wenigen Tagen ein Vorschlag gemacht, verhandelt, vom Gipfel unterstützt sowie vom Europaparlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden könnte, scheint eine eher heldenhafte Annahme, um es vorsichtig auszudrücken“, hieß es am Mittwoch aus EU-Kreisen.

Die EU-Botschafter ließen sich am Mittwochnachmittag über den Stand der Gespräche mit Großbritannien unterrichten und unterstützten anschließend ausdrücklich die Verhandlungsführung von Chefunterhändler Michel Barnier, wie ein anderer EU-Diplomat sagte.

Einwanderungsregeln für Europäer nach „No Deal“

Das britische Innenministerium stellte indes Regeln für künftige Einwanderer aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vor. Diese können eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis beantragen. Dann wird die Identität der Antragsteller festgestellt und eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt. Damit will die Regierung die Einwanderung von Fachkräften sicherstellen und zugleich die „Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen“. Mittelfristig plant die Regierung nach eigenen Angaben die Einführung eines Punktesystems für Einwanderer.