Szene aus „The Handmaid’s Tale“
picturedesk.com/Everett Collection/Hulu
Langerwarteter Roman

Atwoods Mägde kehren zurück

Am Dienstag erscheint „Die Zeuginnen“, der Nachfolger von Margaret Atwoods legendärer Dystopie „Der Report der Magd“. Im fiktiven christlich-fundamentalistischen Staat Gilead wächst darin der Widerstand gegen die Unterdrückung der Frauen. Die Erwartungen an Atwoods Erzählung sind enorm: Das Buch war bereits für den wichtigsten britischen Literaturpreis nominiert, noch ehe sein Inhalt bekannt war.

Die Details der Handlung sollten bis zum Erscheinungstag eigentlich ein gut gehütetes Geheimnis bleiben. Dann lieferte Amazon frühzeitig die ersten Exemplare des Buches in den USA aus. Der Onlinehändler entschuldigte sich später für die Panne. Ursache des Malheurs sei ein „technischer Fehler“ gewesen, hieß es. In den Vereinigten Staaten durften sich unterdessen etwa 800 Leserinnen und Leser freuen, den Roman weltexklusiv erhalten zu haben.

Weiteres Licht ins Dunkel brachten auch britische und US-Medien. Der „Guardian“ druckte bereits vergangene Woche erste Auszüge aus dem Roman ab. Für das US-amerikanische National Public Radio (NPR) las die kanadische Autorin selbst Teile ihres Buches vor. Die Handlung von „Die Zeuginnen“ setzt 15 Jahre nach jener in „Der Report der Magd“ an. Drei Ich-Erzählerinnen führen durch die Geschichte – zwei davon mit direktem Bezug zur Protagonistin aus „Der Report der Magd“, die dritte dürften auch Fans der Serienadaption „The Handmaid’s Tale“ der US-Videoplattform Hulu wiedererkennen.

„Dystopie aus weiblicher Perspektive“

„Der Report der Magd“ erschien 1985. Atwood schrieb den Roman ein Jahr zuvor im geteilten Berlin und in Tuscaloosa im US-Bundesstaat Alabama. In der Kleinstadt wurde ihr abgeraten, das Fahrrad zu nehmen – die Bewohnerinnen und Bewohner könnten sie sonst für eine Kommunistin halten und womöglich körperlich attackieren.

Atwoods Erzählung ist stark beeinflusst von den Werken George Orwells, den sie als ihren „Helden“ bezeichnet. Allen voran „1984“, Orwells Vision eines Überwachungsstaats, der sämtliche Lebensbereiche der Menschen kontrolliert. „Der Report der Magd“ sei der Versuch, eine „Dystopie aus weiblicher Perspektive“ zu erzählen, schrieb Atwood einmal; als Kontrapunkt zu Orwells „1984“, in dem Frauen nur Randfiguren sind.

Autorin Margaret Atwood
AP/Invision/Arthur Mola
Atwoods „Der Report der Magd“ spiegelt das politisch-gesellschaftliche Klima seiner Entstehungszeit wider

Die Paranoia war im Jahr 1984 freilich real: In Osteuropa herrschten autoritäre Regime, in den USA grassierte die Angst vor dem Kommunismus und einer Eskalation des Kalten Krieges zum Atomkrieg. Mitte der 1980er erlebte auch die christlich-fundamentalistische Moral-Majority-Bewegung in den USA ihre Hochblüte, die christliche Wählerinnen und Wähler für die republikanische Partei mobilisierte.

Neue Perspektiven

In „Der Report der Magd“ reflektiert Atwood das gesellschaftliche und politische Klima der damaligen Zeit. Die Vereinigten Staaten sind zu Gilead mutiert. Nach einem Krieg und dem Einsatz von ABC-Waffen sind weite Teile der Bevölkerung unfruchtbar. Nachdem sich eine christliche Sekte – die Söhne Jakobs – an die Macht putscht, wird die Bevölkerung unter Dauerüberwachung gestellt. Sichere Orte gibt es keine, an jeder Ecke könnte ein Agent lauern. Auch die Rolle der Frau wird neu definiert: Der Besitz von Eigentum ist ihr fortan verboten. Ihrem Ehemann hat sie sich komplett unterzuordnen.

Die Geschichte ist aus der Sicht der Magd Desfred (im englischen Original Offred) erzählt. Im Roman hat sie, anders als in der Hulu-Serie, nur diesen Namen. Er weist auf ihren Besitzer hin – den Kommandanten Fred. Als eine der wenigen noch fruchtbaren Frauen in Gilead soll sie ihm ein Kind gebären. Desfreds Welt zwischen Haus und Markt ist klein, entsprechend eng ist die Perspektive, aus der sie berichtet. Der Blick auf das große Ganze, den Staat und seine Gesellschaft, bleibt den Leserinnen und Lesern verwehrt.

Szene aus der Serie „A Handmaid’s Tale“
AP/Hulu/George Kraychyk
Szene aus der TV-Adaption von „Der Report der Magd“: Der Nachfolgeroman eröffnet neue Perspektiven auf Gileads Gesellschaft

Durch die drei Erzählerinnen eröffnet der Nachfolgeroman „Die Zeuginnen“ Leserinnen und Lesern nun eine breitere Perspektive auf die Geschehnisse in Gilead. Der Staat scheint sich neuerlich im Krieg zu befinden. Das Regime sitzt weiterhin im Sattel, aber scheinbar nicht mehr so fest wie einst. Der Widerstand gegen die Regierenden, der im „Report der Magd“ schon angedeutet war, wächst.

Spin-off geplant

Die Erwartungen an „Die Zeuginnen“ sind enorm. Noch ehe der Inhalt bekannt war, wurde das Buch schon auf die Shortlist des Booker Prize aufgenommen, des wichtigsten Literaturpreises Großbritanniens. Wenn die mittlerweile 79 Jahre alte Schriftstellerin das Buch am Dienstag offiziell vorstellt, werden Tausende Menschen dabei sein. Das Event wird in 1.000 Kinos rund um den Globus live übertragen.

Buchhinweis

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Berlin Verlag, 576 Seiten, 25 Euro.

Die Videoplattform Hulu kündigte eine Adaption des Stoffes für das Fernsehen an, als Ableger der Erfolgsserie „The Handmaid’s Tale“. Das ist konsequent: Atwood nimmt in „Die Zeuginnen“ Bezug auf Entwicklungen in der von Bruce Miller umgesetzten Fernsehserie. Drei Staffeln gibt es bisher, Hulu hat bereits eine vierte in Auftrag gegeben.

Der Protest der Mägde

„Der Report der Magd“ stieg nach seiner Erstveröffentlichung rasch zum Klassiker auf. Bereits 1990 verfilmte Volker Schlöndorff das Buch als „Die Geschichte der Dienerin“. Auch für die Oper, das Theater, als Einpersonenstück und fürs Ballett wurde der Stoff bereits adaptiert. Und die Band Lakes of Canada nutzte Atwoods Erzählung als Inspiration für ein Konzeptalbum.

Protestierende Frauen
APA/AFP/Natalie Behring
Proteste gegen das Abtreibungsverbot im US-Bundesstaat Alabama: Die „Mägde“ wurden auch im echten Leben zu Symbolen des Widerstands

Befeuert durch die Serienadaption ist „Der Report der Magd“ mittlerweile auch im echten Leben zum Symbol des Widerstands geworden. Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 haben einige republikanische US-Bundesstaaten Versuche unternommen, Abtreibung de facto zu verbieten. Bei Protesten dagegen verkleideten sich viele Demonstrantinnen als „Mägde“ – im roten Kleid und mit charakteristischer weißer Haube. Die Entscheidung, dem legendären Roman ein Sequel folgen zu lassen, haben laut Atwood aber weder Hulu noch die Wahl Trumps beeinflusst. Den Plan dazu habe sie bereits im Frühjahr 2016 gefasst, erklärte die Schriftstellerin.