In Gesichtern kann sich alles widerspiegeln, was die Gedanken der Menschen gerade hergeben. Verschlafene Träume von längst verschlafenen Karrieren, Liebesfantasien, Frustration – manchmal ist das besonders, manchmal sind Menschen wie Kunstwerke, Displays für Gefühle, meist nur für einen kurzen Moment. Diesen kurzen Moment einzufangen ist nicht leicht. Man muss schon lange durch die Straßen gehen, lange in den U-Bahnen sitzen, um sie abwarten zu können, und dann noch zur richtigen Zeit abdrücken.
Die deutsche Fotografin Loredana Nemes zeigt auf eines von drei Fotos eines Pärchens in der New Yorker U-Bahn. Gezittert habe sie, weil der Moment so perfekt war und man bei einer alten Analogkamera nicht sofort weiß, ob das Bild auch wirklich etwas geworden ist. Die beiden sitzen nebeneinander. Sie schaut angefressen drein, er wirft einen besorgten, heimlichen Seitenblick auf sie. Sie trägt ein Spider-Man-T-Shirt. Nemes im Gespräch mit ORF.at: „Früher war er vielleicht ihr Spider-Man.“ Heute ist er ihr Frustfaktor, zumindest dem Blick nach zu urteilen.
Wie unhöflich darf man sein?
Aber wie geht das? Man kann ja nicht einfach fremde Menschen fotografieren, ohne zu fragen. Bei der Führung durch die Ausstellung im Kunsthaus sind neben Nemes noch einige weitere Fotografinnen und Fotografen anwesend. Der Tenor lautet: doch, kann man. Wenn man sich da einschränken würde, gäbe es viele wichtige Fotokunstwerke nicht; Kunst sei eben Kunst und basta; einfach abzudrücken sei kein Problem, das mache selbst Martin Parr so, der Star der Street Photography. Der habe einmal sinngemäß gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in die Ausstellung kommt und sich aufregt, sei gering – es komme schon vor, aber dann könne man sich noch immer darum kümmern.
Mit einigen Fotos ist auch Siegfried Hansen in der Ausstellung vertreten. Hansen erzählt, dass seine Frau immer so wegen der Persönlichkeitsrechte besorgt war, weshalb er, wenn er mit ihr unterwegs war, eher grafische Motive aufgenommen hat – spannungsgeladene geometrische Zufallsfunde. Städte sind, durch diese Brille betrachtet, Ansammlungen von Linien. Street Photography muss nicht immer Menschen zeigen.
Die Madonnen des Alltags
Von Nemes sind außer den drei Fotos des Pärchens auch noch drei überaus beeindruckende Einzelporträts zu sehen – eine Madonna, eine Diva und eine Lady. Nemes sagt, dass sie nie um Erlaubnis bittet – aber ihre Fotos auch nicht versteckt und verstohlen macht. Sie hat ihre alte Rolleyflex-Kamera, die wie ein hochgestelltes Kästchen mit zwei Objektiven aussieht, in der U-Bahn auf dem Schoß liegen, hantiert damit, wird von ihren unfreiwilligen Models bemerkt – und sorgt so für ein Klima des Einverständnisses.
Manche würden dann ein wenig posieren, sich gerader hinsetzen etwa, andere wieder einfach in ihrem Trott verharren. Dann wartet Nemes auf die eine Mimik, den einen Blick, und drückt ab.
Abseits der Trampelpfade
Die Ausstellung war in ähnlicher Form – aber mit geringerem Österreicher-Anteil – zuvor in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen. Kern der Schau sind Fotos aus der Sammlung von F. C. Gundlach, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ikonen der Modefotografie schuf und später eine der bedeutendsten Privatsammlungen von Fotografien anlegte. Um diese Sammlung kümmert sich Sabine Schnakenberg, die auch die aktuelle Ausstellung kuratiert hat.
Die Sammlung Gundlach umfasst vor allem Arbeiten aus den letzten 70 Jahren, deshalb deckt auch die Schau im Kunsthaus diesen Zeitraum ab. Martin Parr und Henri Cartier-Bresson, die beiden wahrscheinlich größten Namen, was Street Photography betrifft, kommen nicht vor, auch andere Magnum-Fogotrafinnen wie Inge Morath finden keine Erwähnung. Street Photography ist ein Hype-Thema, seit auf Social Media jeder seine eigene Fotoausstellung kuratiert und so das Interesse für Fotografie geweckt ist.
Aber die zuletzt oft gezeigten Positionen sollten bei dieser Schau unberücksichtigt bleiben, und auch das „Instagram ist die neue Alltagsfotografie-Ausstellung“-Thema wurde ausgespart. Der Fokus hier: Street Photography aus den letzten 70 Jahren, ausgewählt so, dass überraschende, aufregende, neue Positionen überzeugen. Das funktioniert auch. Spannend etwa die Fotos von Doug Rickard – der ausschließlich Schnappschüsse von Google Street View verwertet und weiterbearbeitet. Das sieht unsere heutige Welt aus wie ihre eigene, verwaschene Technicolor-Version.
Der pure Voyeurismus
Übrigens wird hier unter Street Photography nicht nur das spontane, ungestellte Foto verstanden. Auch sorgsame Inszenierungen im öffentlichen Raum, die mit dem Vorgefundenen arbeiten, die auf eine Ästhetik der überästhetisierten öffentlichen Alltagskultur zurückgreifen, werden integriert. Die Klammer ist das „Street Life“, der öffentliche Raum – wobei es sogar da Ausnahmen gibt.
Ausstellungshinweis
Die Ausstellung „Street. Life. Photography“ ist im Kunsthaus Wien noch bis 16. Februar zu sehen.
Denn Merry Alpern geht mit ihren Fotos einen Schritt weiter. Oder gleich mehrere. Sie hat sich extra bei einem Freund einquartiert, der gegenüber einem Club lebte. Von ihrem Fenster aus blickte sie in Badezimmerfenster des Clubs und fotografierte dort alles, was sich bewegte: Prostituierte beim Umziehen, Kokser beim Koksen und vieles mehr. Die Fotos sind intensiv, durch ihre grobe Körnung (das Fenster war recht weit entfernt) und die verschwommene Wahrnehmung wegen der dreckigen Fenster entwickeln sie eine ganz eigene, impressionistisch anmutende Ästhetik und emotionale Dichte. So wird Voyeurismus zur Kunst – aber bleibt Voyeurismus.
Futter für Instagrammer
Das bringt das Prinzip der Street Photography ganz gut auf den Punkt und zeigt, warum sie gerade auch heute, im Instagram-Zeitalter, so gut funktioniert. Vom brutalen Hineinfotografieren in knallbunte indische Taxis über klassische Porträts von Kindern in britischen Arbeitervierteln bis hin zu scheinbar nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Straßenszenen: Wo man sonst nur verschämt hinblicken könnte, darf man jetzt starren. Und Instagrammer können etwas lernen über die Geduld, auf den richtigen Moment zu warten. Und über Ästhetik. Und etwas über das Leben. Schaden kann’s nicht.