Britischer Premierminister Boris Johnson
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Gerichtsdokumente

Johnson offenbar zu Brexit-Aufschub bereit

Der britische Premierminister Boris Johnson will nun offenbar doch nicht „lieber tot im Graben liegen“ als eine weitere Brexit-Verschiebung zu beantragen. Wie aus am Freitag bekanntgewordenen Gerichtsdokumenten hervorgeht, will Johnson einen Antrag nach Brüssel schicken, wenn es bis 19. Oktober keinen beschlossenen Austrittsdeal geben sollte.

Abgeordnete hatten vor dem schottischen Höchstgericht geklagt, um Johnson zur Einhaltung des Anfang September vom Unterhaus beschlossenen Gesetzes gegen einen „No Deal“-Brexit zu zwingen. Der Premier hatte bisher versichert, dass er dem Gesetz entsprechen werde, zugleich aber kategorisch ausgeschlossen, dass sein Land über den 31. Oktober hinaus in der EU bleiben wird.

Gegenüber dem Gericht erklärte er nun, dass er wie vom Gesetz verlangt eine Brexit-Verschiebung bei der Europäischen Union beantragen wird, wenn es zum Stichtag 19. Oktober keinen Deal geben sollte. Johnson bestand bisher darauf, das Vereinigte Königreich Ende Oktober aus der EU führen zu wollen, „komme, was wolle“, wie er sagte. Wie er das Gesetz umgehen will, ist bisher unklar.

Medien: Kein grundlegender Kurswechsel

Einen grundlegenden Kurswechsel Johnsons sahen britische Medien aber noch nicht gekommen. Die BBC berichtete unter Berufung auf Regierungsquellen, die Regierung halte einen harten Brexit am 31. Oktober dennoch weiterhin für möglich. Spekuliert wurde, London könnte eine Ablehnung des Antrags durch die EU provozieren, beispielsweise mit der Drohung, Entscheidungen in Brüssel künftig zu blockieren. Einem Antrag auf Verlängerung müssten alle 27 bleibenden EU-Staaten zustimmen.

Boris Johnson und Jean-Claude Juncker
AP/Francisco Seco
Johnson und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker: Der Premier könnte auf die Ablehnung des Antrags durch Brüssel spekulieren, berichten britische Medien

Positive Reaktion aus Irland

Irlands Regierungschef Leo Varadkar reagierte positiv auf Johnsons Ansage vor Gericht. Es handle sich nur um die nächste Verhandlungsphase, aber wenn Großbritannien eine Verlängerung beantrage, werde man das überdenken, sagte er. Die meisten EU-Mitgliedstaaten würden das aber nur bei einem guten Grund in Betracht ziehen. Der Fokus liege darauf, eine Einigung beim EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober zu erzielen.

Die EU und Großbritannien hatten sich vor knapp einem Jahr auf einen Austrittsdeal geeinigt, der aber dreimal im britischen Parlament durchfiel. Weil deswegen auch das ursprüngliche Austrittsdatum 29. März nicht eingehalten werden konnte, musste Premierministerin Theresa May das Handtuch werfen. Johnson gelang die Wahl zu ihrem Nachfolger mit dem Versprechen, den Brexit jedenfalls Ende Oktober durchzusetzen, auch um den Preis eines vertragslosen Zustands mit der EU.

Neuer Vorschlag aus London „ungenügend“

Der ursprüngliche Austrittsdeal ist wegen des nordirischen „Backstops“ umstritten, der die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Irland verhindern soll. Johnson übermittelte der EU am Mittwoch einen Alternativvorschlag, der aber auf kritisches Echo in Brüssel stieß.

Karte zeigt irische Insel
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

So betonte der irische Außenminister Simon Coveney, dass es bei den Vorschlägen Johnsons noch Nachbesserungsbedarf gebe. Bleibe es bei diesen Vorschlägen, laufe es auf einen EU-Ausstieg Großbritanniens ohne Vertrag hinaus. „Der Spielraum des Premierministers ist sehr eng, aber er hat sich ja selbst in diese Ecke manövriert.“ Auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli bezeichnete die Vorschläge Johnsons als „ungenügend“.

Intensive Verhandlungen

Vertreter von EU-Kommission und Rat forderten indes einen Durchbruch im Brexit-Streit bis spätestens Freitag kommender Woche. Das sei „kein Ultimatum“, sondern eine praktische Notwendigkeit in Vorbereitung auf den EU-Gipfel. „Wenn es bis zum Freitag nichts gibt, gibt es nicht genug Zeit, um vor dem Gipfel eine Vereinbarung zu erzielen“, sagte ein EU-Vertreter.

Der Rechtstext müsse Ergebnis der Gespräche zwischen der Londoner Regierung und dem Team von EU-Chefunterhändler Michel Barnier sein, sagte ein weiterer EU-Vertreter. Ein EU-Diplomat sagte, beide Unterhändler befänden sich derzeit in intensiven Verhandlungen („im Tunnel“) und suchten nach einer Lösung. Die Mitgliedstaaten würden „Ende nächster Woche wissen, ob wir wirklich Verhandlungen über den Text beginnen können“.

EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier
Reuters/Francois Lenoir
EU-Brexit-Chefunterhändler Barnier: Intensive Verhandlungen mit der britischen Seite

Es gebe „eine Menge Fragezeichen“ hinter Johnsons Vorschlag, sagte der Diplomat weiter. Einerseits gehe es um die Frage, ob Zollkontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland direkt an der Grenze tatsächlich über technische Möglichkeiten vermieden werden könnten. Anderseits habe die EU auch Probleme mit Johnsons Forderung, dass das nordirische Parlament die Vereinbarung billigen und alle vier Jahre bestätigen soll. „Für uns ist das schwer vorstellbar“, sagte der Diplomat. Sollte nämlich Nordirland entscheiden, dass es sich nicht mehr an die EU-Regeln halte, „steht die Integrität des Binnenmarkts auf dem Spiel“.

Zustimmung in London fraglich

Selbst wenn die Europäische Union auf die Vorschläge Johnsons einsteigen würde, ist äußerst fraglich, ob diese durchs Unterhaus kommen würden. Johnsons Vorgängerin May war mit dem Austrittsdeal dreimal im Londoner Parlament gescheitert. Das Regierungslager ist durch Nachwahlniederlagen, Austritte und Ausschlüsse mittlerweile weiter geschrumpft. Oppositionschef Jeremy Corbyn machte indes klar, dass seine Labour Party keine Stimmen für Johnsons Deal beisteuern werde. Sie fordert eine Verschiebung des Brexits, gefolgt von Neuwahlen und einem zweiten Referendum über den EU-Austritt.