Proteste in irakischer Hauptstadt Bagdad
Reuters/Alaa Al-Marjani
Fast 100 Tote bei Protesten

Irakische Regierung im Krisenmodus

Seit Tagen gibt es gewaltsame Proteste gegen Korruption und Misswirtschaft der Regierung im Irak. 93 Menschen kamen dabei seither ums Leben. Auch erste Rücktrittsaufforderungen wurden bereits laut. Eine eigentlich für Samstag geplante Krisensitzung im irakischen Parlament wurde kurzfristig verschoben.

Abgesehen von den fast 100 Toten wurden der staatlichen Menschenrechtskommission in Bagdad zufolge fast 4.000 Menschen verletzt. Bei der überwiegenden Zahl der Opfer handle es sich um Demonstranten. Außerdem seien Dutzende Gebäude beschädigt worden. Auch das Internet ist landesweit größtenteils unterbrochen. Regierungschef Adel Abdel Mahdi hob eine Ausgangssperre auf, die er am Donnerstag verhängt hatte, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.

In der Hauptstadt sowie in mehreren anderen Provinzen vor allem im Süden des Landes waren am Dienstag Proteste gegen Korruption und Misswirtschaft ausgebrochen. Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas und Schüssen in die Luft gegen die Demonstranten vor.

Fernsehstudios gestürmt

Auch am Samstag wurde in Bagdad wieder demonstriert. Augenzeugen und Aktivisten berichteten, zwei Menschen seien im Zentrum der Hauptstadt getötet worden, als Sicherheitskräfte auf einen Protest mit rund 200 Menschen geschossen hätten. Demonstranten hätten Autoreifen angezündet.

Der irakische Sender NRT und der von Saudi-Arabien finanzierte Nachrichtenkanal Al-Arabija berichteten, ihre Studios in Bagdad seien am Samstagabend gestürmt worden. Aus Sicherheitskreisen hieß es, Mitarbeiter von Al-Arabija seien angegriffen worden. Unklar war zunächst, wer für die Angriffe verantwortlich war. Beide Sender hatten in den vergangenen Tagen ausführlicher als regierungstreue irakische Kanäle über die Proteste und Opferzahlen berichtet.

Proteste gegen Arbeitslosigkeit

Die Proteste richten sich unter anderem gegen die chronischen Stromausfälle und die hohe Arbeitslosigkeit. Die rund 40 Millionen Einwohner des Irak leiden unter den Folgen von Krieg, Arbeitslosigkeit und Korruption. Seit der US-Invasion 2003 sollen 410 Milliarden Euro veruntreut worden sein. Der Irak ist der zweitgrößte Ölproduzent der Organisation Erdöl exportierender Staaten (OPEC), doch der Großteil der Einnahmen aus dem Ölgeschäft versickert.

Al-Sadr für Rücktritt der Regierung

Rückendeckung bekamen die Demonstrierenden indes von wichtigen schiitischen Geistlichen. Der erste Rücktrittsaufruf kam etwa von dem Geistlichen Moktada al-Sadr – „um weiteres Blutvergießen zu vermeiden“, wie er in einem Brief schrieb. Al-Sadrs Block hatte bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr die meisten Sitze gewonnen. Als erster geistlicher Würdenträger des Landes hatte er sich bereits am Mittwoch hinter die Protestbewegung gestellt und zu „friedlichen Sit-ins“ aufgerufen. Seine Fraktion rief auch zu einem Boykott der für Samstag geplanten Krisensitzung auf, die deswegen kurz darauf verschoben wurde, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtet.

schiitischer Geistlicher Moktada al-Sadr
Reuters/Alaa Al-Marjani
Der schiitische Geistliche Moktada al-Sadr stellte sich hinter die Forderungen der Demonstrierenden

Auch der höchste schiitische Geistliche des Irak rief die Politik zuvor zu „ernsthaften Reformen“ auf, bevor es zu spät sei. Großajatollah Ali al-Sistani verurteilte zugleich die Angriffe auf Demonstranten und Sicherheitskräfte. Präsident, Regierung und Parlament müssten die notwendigen Schritte für „wirkliche Reformen“ unternehmen, erklärte er in seiner Freitagspredigt, die für ihn in einer Moschee verlesen wurde. Der Geistliche gilt als wichtigste irakische moralische Stimme, mit großem Einfluss auf die Politik.

Ministerpräsident: Gibt „keine Zauberformel“

Die Wut der Demonstranten ist auch deshalb so groß, weil die Regierung seit Jahren Reformen und einen verstärkten Kampf gegen die Korruption verspricht, ohne dass sich die Lage bessert. Die großen politischen Blöcke im Parlament blockieren sich gegenseitig. Der Regierungschef verfügt über keine eigene Hausmacht.

Irakischer Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi und der iranische Präsident Hassan Rouhani
AP/Iranian Presidency Office
Regierungschef Mahdi (links, neben dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani) sah die Forderungen als berechtigt an

Ministerpräsident Mahdi erkannte die Forderungen der Demonstranten in einer TV-Ansprache in der Nacht auf Freitag als berechtigt an. Die Regierung sei um eine Lösung bemüht, doch gebe es „keine Zauberformel“, um alle Probleme zu lösen, sagte er. Zugleich kündigte er Hilfe für benachteiligte Familien an.

UNO stellt sich hinter Demonstrierende

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief die Regierung und die Demonstranten unterdessen zu einem Dialog auf. Alle Beteiligten müssten „äußerste Zurückhaltung“ zeigen, erklärte er in New York. Auch die Chefin der UNO-Mission im Irak, Jeanine Hennis-Plasschaert, erklärte, die Forderungen der Demonstranten seien legitim. „Unverzügliche, spürbare Ergebnisse sind von großer Wichtigkeit, um das öffentliche Vertrauen wiederherzustellen“, sagte sie.

Demonstrationen im Irak

ORF-Journalist Andreas Pfeifer erklärt, was hinter den gewaltsamen Protesten im Irak steckt.

Das UNO-Menschenrechtsbüro in Genf rief die Regierung auf, die Proteste ernst zu nehmen. Sie müsse beispielsweise Arbeitsplätze schaffen. Das Büro äußerte sich besorgt über Berichte, dass die Sicherheitskräfte teilweise scharfe Munition und Gummigeschoße eingesetzt hätten. Die Regierung müsse sicherstellen, dass die Menschen ihre Beschwerden ohne Risiken zu Gehör bringen können.

Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte es in der südirakischen Großstadt Basra heftige Proteste gegen Korruption und Misswirtschaft gegeben. Viele Teile des Landes haben nur wenige Stunden Strom am Tag und vielerorts ist das Wasser knapp. Jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos, während riesige Summen durch Korruption versickern. Seit der US-Invasion 2003 sollen 410 Milliarden Euro veruntreut worden sein.