Vera Jourova
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EU-Anhörungen

Polen und Ungarn erneut im Visier

Die Tschechin Vera Jourova soll als Vizepräsidentin der EU-Kommission für Grundwerte und Transparenz zuständig sein. Am Montag fand in Brüssel ihre Anhörung vor dem EU-Parlament statt. In Hinblick auf die Verfahren wegen potenzieller Verletzung von Werten und Rechtsstaatlichkeit, die die EU gegen Ungarn und Polen führt, wurde Jourova auf den Zahn gefühlt.

Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen setzte für ihr Team die Verteidigung der „gemeinsamen Werte“ und die „Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit“ als Prioritäten fest. Der Rechtsausschuss hat nach einer Prüfung der schriftlichen Antworten Jourovas auf die Fragen des Parlaments keine Einwände erhoben.

Dass von der Leyen Jourova nominiert hatte, wird als Versuch gesehen, den freundlichen Kontakt mit den Visegrad-Staaten – Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei – zu suchen, diesen Staaten aber auch gleichzeitig besonders auf die Finger zu schauen. Besonders interessant wurde es daher bei jenen Fragen, die die EU-Abgeordneten Jourova zur Situation der Grundwerte und Menschenrechte in bestimmten EU-Staaten stellten.

Vertragsverletzungsverfahren: „Nie gedacht“

„Das Verfahren nach Artikel 7 ist etwas, von dem ich nie gedacht hätte, dass es jemals angestoßen wird“, sagte Jourova und verwies auf die gegen Ungarn und Polen eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren. Die scheidende Kommission schlug dazu eine rechtsstaatliche Konditionalität für den Haushalt vor. Das bedeutet, dass EU-Mittel an die Einhaltung demokratischer Standards geknüpft würden. Jourova fügte hinzu, dass diese auf „faire und transparente Weise“ verwendet würden. Sie sei dafür, einerseits die Gespräche, aber auch die Verfahren an sich fortzuführen.

Vera Jourova
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Die Kommission werde „hellhörig, wenn wir mitbekommen, dass Richter möglicherweise nicht mehr unabhängig sind“, sagte Jourova, ohne Polen dezidiert zu nennen

Die EU-Kommission sieht in Polen die Unabhängigkeit der Justiz und damit die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr. Das Programm der regierenden, nationalistischen PiS-Partei (Dt.: „Recht und Gerechtigkeit“) sieht nämlich vor, die Immunität von Richterinnen und Richtern künftig generell aufzuheben. Bei schwerwiegender und anhaltender Verletzung der Grundwerte könnte Polen das Stimmrecht als EU-Mitgliedsstaat entzogen werden. Jourova sagte dazu – ohne Polen dezidiert zu nennen –, die Kommission werde „hellhörig, wenn wir mitbekommen, dass Richter möglicherweise nicht mehr unabhängig sind“.

Auch Ungarn steht im Visier der EU, da der Mitgliedsstaat die Kontrolle über Medien, Justiz und akademische Einrichtungen verstärkt. Deshalb wurde auch hier ein Strafverfahren gegen die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban eingeleitet. Zudem seien unter anderem Minderheitenrechte und die Situation von Migrantinnen und Migranten sowie Menschen auf der Flucht prekär, lautet der Vorwurf. Umstritten sind zum Beispiel Beschlüsse der ungarischen Regierung, die vorsehen, Hilfeleistung bei Asylanträgen unter Strafe zu stellen und das Recht auf Asylantrag einzuschränken.

„Feinde der Demokratie für digitales Zeitalter gerüstet“

Jourova geht davon aus, sollte sie vom EU-Parlament als Kommissarin angenommen werden, dass sie in mehreren Bereichen arbeiten wird: einem neuen EU-weiten Mechanismus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit, einer Aktualisierung der Grundrechtsstrategie und einem Aktionsplan für Demokratie. Außerdem wolle sie, so die designierte Vizekommissarin, dass die EU Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention wird.

Jourova wird auch für die Überwachung des Verhaltenskodex auf Onlineplattformen und Sozialen Netzwerken zuständig sein. Auf diesen hatten sich die führenden Netzwerke und Firmen geeinigt, um die Verbreitung von Desinformation, manipulativen Inhalten, „Fake News“ und Hass im Netz zu verhindern. „Was offline verboten ist, soll auch online verboten sein“, sagte die designierte Transparenzkommissarin in der Beantwortung einer Frage im EU-Parlament, jedoch sei die Situation in puncto Falschinformation nicht so einfach: „Strafrechtlich gesehen sind das keine illegalen Inhalte.“

„Die Feinde der Demokratie haben sich bereits fürs digitale Zeitalter gerüstet“, sagte Jourova. Sie möchte aus diesen Gründen die Widerstandsfähigkeit der EU im digitalen Bereich stärken. Die Digitalisierung habe viel Gutes gebracht, aber gleichzeitig auch Bedrohungen und Risiken. Die neue Vizepräsidentin soll weiters mit den Mitgliedsstaaten das EU-Wahlsystem reformieren, Gesetzgebungsprozesse transparenter machen und den Pluralismus der Medien sicherstellen.

Schutz von Journalisten – nationale Angelegenheit?

Auf die Frage der maltesischen Abgeordneten Roberta Metsola, ob Jourova sich insbesondere für Medienfreiheit einsetzen würde, antwortete diese, sie habe das persönlich der Familie der ermordeten maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia versprochen. „Ich bin froh, in diesem Amt nun mehr dafür tun zu können“, so die designierte Wertekommissarin. „Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit gehören für mich zusammen.“ Immer wieder müsse die EU deshalb ihre Lehren ziehen und aufmerksamer sein.

Doch darauf, was denn genau passiere, wenn Journalistinnen und Journalisten sich bei Bedrohung nicht auf den Schutz der eigenen nationalen Regierungen verlassen können, sagte Jourova: „Das ist eine sehr schwierige Frage, und ich werde nicht vorgeben, dass die Europäische Union in diesen Fällen über eine starke Gesetzgebungs- oder Exekutivgewalt verfügt.“

Reform des Wahlsystems geplant

Ein Reformieren des Wahlsystems bei der EU-Wahl könne sie sich vorstellen, führte Jourova in ihrer Beantwortung fort. Sie sehe sich als Vermittlerin zwischen EU-Parlament und EU-Rat – auch was transnationale Listen bei der Europawahl betrifft. „Ich werde tun, was ich kann“, versprach die Tschechin, verwies diesbezüglich aber auch auf Work-in-Progress. So dürfe etwa kein Land benachteiligt werden, und das sei hier eine besondere Herausforderung. 2020 sollten dennoch erste Vorschläge unterbreitet werden können.

Während Jourova mehrmals auf die Überschreitung ihrer Redezeit hingewiesen wurde, löste die eine oder andere Frage bei einigen Europaabgeordneten Kopfschütteln aus. Nicolaus Fest von der rechtspopulistischen AfD fragte etwa, ob Jourova das „Lebensrecht der Ungeborenen“ anerkenne. Hier sparte die designierte Wertekommissarin Zeit und antwortete knapp, das sei Sache der Mitgliedsstaaten.

Geübte EU-Kommissarin

Jourova ist in Brüssel nicht unbekannt: In der Kommission unter Jean-Claude Juncker war die liberale Politikerin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung zuständig. So setzte sie sich unter anderem für strengere Regeln für Technologieriesen wie Facebook und Airbnb ein. Jourova ist Mitbegründerin der populistischen Partei ANO des tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babis, die zur liberalen Fraktion im EU-Parlament gehört. Babis selbst wird EU-Subventionsbetrug vorgeworfen.

Auch darauf wurde Jourova am Montag vor dem EU-Parlament angesprochen. Ihre allgemein gehaltene Antwort: „Die Kommission als Hüterin der Verträge reagiert natürlich.“ Auch Jourova selbst wurde in der Vergangenheit bereits der Korruption bezichtigt und verbrachte einen Monat in Untersuchungshaft. Nachdem sich die Vorwürfe vor Gericht aber als falsch herausstellten, erhielt sie eine staatliche Entschädigung. Das US-Magazin „Time“ nahm die Tschechin 2019 in ihr Ranking der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten auf, als „führende Stimme, die die Regulierung digitaler Technologieunternehmen einfordert“.

Anhörungen gehen dem Ende zu

Mit Montag sind 23 der 26 Kommissionskandidatinnen und -kandidaten angehört worden. Parallel zu Jourovas Anhörung fand auch jene von Josep Borrell statt. Der derzeitige spanische Außenminister und frühere EU-Parlamentspräsident soll Außenbeauftragter werden. Im vergangenen Jahr musste Borrell eine Geldstrafe von 30.000 Euro wegen eines Insider-Delikts zahlen. Der 72-jährige Sozialist hatte als Verwaltungsrat des spanischen Energieunternehmens Abengoa Firmenaktien verkauft, kurz bevor die Gesellschaft 2015 Insolvenz anmeldete.

Mancher im EU-Parlament stellte die Frage, ob ein Kandidat, der einen Strafbefehl akzeptiert hat, Mitglied der EU-Kommission werden sollte. Als EU-Außenbeauftragter arbeite er als Europäer, nicht als Spanier, so Borrell bei seiner Anhörung. „Das ist nicht die Welt, die sich die EU gewünscht hat“, so der designierte Kommissar: der Krieg in Syrien, ein unberechenbarer US-Präsident, die Sorge vor einer neuen Atommacht Iran, die Situation in der Ukraine und in Nordkorea. Die EU als Hüterin der Menschenrechte müsse sich deshalb auf der Weltbühne Gehör verschaffen, sagte Borell vor dem Außenausschuss. Man müsse geeint auftreten: „Geopolitik, so könnte man sagen, beginnt zu Hause.“

Josep Borrell
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Gleichzeitig zu Jourovas Anhörung fand jene des Spaniers Josep Borrell statt. Er soll EU-Außenbeauftragter werden.

Das hatte allerdings auch schon die scheidende EU-Außenbeauftragte Frederica Mogherini vor, doch in der EU-Außenpolitik braucht es Einstimmigkeit, weshalb Entscheidungen lange auf sich warten lassen oder ganz ausbleiben. Borrell pflichtete der Einstimmigkeit bei. Bei gewissen Entscheidungen aber, etwa bei Sanktionen, könne er sich vorstellen, auf einen Mehrheitsentscheid umzustellen.

Das EU-Parlament muss allen designierten Kommissarinnen und Kommissaren zustimmen. Ihre Meinung bilden sich die EU-Abgeordneten unter anderem in den Anhörungen, den „Hearings“. Am 23. Oktober wird dann über das gesamte Kollegium abgestimmt, am 1. November soll die neue Kommission ihr Amt antreten. Von der Leyen hatte sich eine Kommission bestehend aus gleich vielen Frauen wie Männern zum Ziel gesetzt.